Weltbildzertrümmerung

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Wie Putins Krieg uns zwingt, die Zeitgeschichte neu zu gliedern.

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Wie Putins Krieg uns zwingt, die Zeitgeschichte neu zu gliedern.

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Im Ukraine-Konflikt sind zwei (unrichtige) Weltbilder aufeinandergeprallt, mit verheerenden Folgen.

(1) Das West-Paradigma war nicht unsinnig oder naiv: Wandel durch Handel. Mehr Verflechtungen, Begegnungen, Kenntnisse, Netzwerke, Pipelines. Das schafft Sympathien, Freunde, Konvergenz. Und optimale wirtschaftliche Abhängigkeiten: Je mehr man einander braucht, bis ins Existenzielle, desto weniger werden die „Partner“ so blöd sein, sich durch Konflikte ins eigene Knie zu schießen.

(2) Das Putin-Paradigma hat man nicht wahr- oder jedenfalls nicht ernst genommen: seine Verwundung durch den Zerfall der Sowjetunion; den Rückgriff auf das zaristische Imperium und die Beschwörung der „Russischheit“, die Seele, das „tiefe Wesen“ des Landes, befördert durch die Allianz mit der orthodoxen Kirche und ihrem korrupten Führer. Und das alles geprägt von Putins Grunderfahrung: Geheimdienst. Letzteres heißt: Machtausübung kann nur zynisch sein und muss Tote in Kauf nehmen.

Putins Testläufe zur Wiederrichtung des Imperiums sind in den letzten zwei Jahrzehnten gut gelaufen, sogar die Krim’sche Frechheit wurde hingenommen. Seine Schlussfolgerung: Der Westen ist dekadent. Die EU eine zerstrittene Bande. Die USA handlungsun­fähig. Also folgt ein etwas größerer Schachzug: die „ganze“ Ukraine. Der Westen werde drei Monate lang seine „tiefe Sorge“ ausdrücken …

Plötzlich ein Erwachen nach der Fehlkalkulation auf beiden Seiten. Putin scheitert militärisch. Der Westen liefert Waffen und Informationen. Die EU ist überrascht von sich selbst: ungewohnte Einigkeit, rasche Entscheidung, scharfe Sanktionen, Entschlusskraft, NATO-Aufwertung. Zertrümmerte Weltbilder. Wir gliedern die Zeitgeschichte neu: Die letzten dreißig Jahre waren nur eine Übergangsperiode.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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