Wutbürger: Die Welt ist böse

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Um das Böse zu exorzieren, tendiert man zum „Gegen-Bösen“: dem linken oder rechten Diktator, der durchschlagskräftig das wahre Wollen des Volkes verkörpert.

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Um das Böse zu exorzieren, tendiert man zum „Gegen-Bösen“: dem linken oder rechten Diktator, der durchschlagskräftig das wahre Wollen des Volkes verkörpert.

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Jüngst habe ich mir von einer Wutbürgerin ihr Modell der Welt erklären lassen – frappierend, diese säkularisierte Primitivreligion.

Erstens: Viele könnten annehmen, die Welt sei von Unsicherheit, Steuerungslosigkeit, Machbarkeitsschwund gekennzeichnet. Für sie ist das Gegenteil wahr: Es sei in Wahrheit alles machbar, steuerbar, lenkbar. Alles ruht in mächtigen Händen: Denn Krisen seien beabsichtigt.

Zweitens entstünden Krisen nicht aus Hilflosigkeit, Unkenntnis, Versagen. Wahr sei: Es gebe (im Verborgenen) Machthaber, die alles im Griff hätten. Man kann sich eine Komplexität der Welt nicht vorstellen, in der es von Zufällen und unintendierten Fern- und Wechselwirkungen wimmelt, vielmehr herrscht klassisches Personifizierungsdenken: Anonyme Kräfte waren früher Götter und Dämonen, doch die diesseitigen Akteure entstammen derselben Denkfigur.

Drittens seien nicht die großen Machtfiguren, nicht ­Biden oder Macron, entscheidend. Wahr sei: Von den wirklichen Machthabern kann man sich kein Bild machen, aber gerade wegen ihrer Unsichtbarkeit sind sie besonders gefährlich. Im Vordergrund seien ja nur die Büttel sichtbar, in Politik, Medien, Kunst und Wissenschaft. Die Drahtzieher wüssten hingegen alles. Sie ließen die Menschen in Krisen schlittern, durch Inflation enteignen, durch Impfungen drangsalieren, durch Kriege bedrohen.

Viertens findet meine Wutbürgerin hinter den Ereignissen (Krieg, Epidemie, Inflation, Klima, Energie) keinen sinnhaften Zusammenhang, kein Interesse, kein Steuerungsziel. Sie macht ihr Modell nur an der mächtigen „Elite“ und ihren unermesslich bösen Absichten fest. Um das Böse zu exorzieren, tendiert man zum „Gegen-Bösen“: dem linken oder rechten Diktator, der durchschlagskräftig das wahre Wollen des Volkes verkörpert.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Uni Graz.

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