Brasilien - © Foto: Getty Images / NurPhoto

Covid-19 und Brasilien: Zwischen Verleugnung, Härte und Militarisierung

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Lateinamerikanische Länder wie Brasilien gehören zum neuen Corona-Krisenherd. Die rasant wachsende soziale Ungleichheit könnte den Populisten in die Hände spielen, warnen Experten.

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Lateinamerikanische Länder wie Brasilien gehören zum neuen Corona-Krisenherd. Die rasant wachsende soziale Ungleichheit könnte den Populisten in die Hände spielen, warnen Experten.

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Patient null in Peru heißt Luis Felipe Zevallos. Der 25-jährige Pilot brachte das Virus aus Europa mit, ob aus Prag, Barcelona oder Madrid vermag niemand zu sagen. Er wurde in Lima am 6. März Coronapositiv getestet. Noch am Abend desselben Tages verfügte Präsident Martín Vizcarra Präventionsmaßnahmen an Flughäfen, Häfen, Bus- und Bahnhöfen. Neun Tage und 42 Covid-19-Fälle später wurde der Ausnahmezustand verhängt – früher als in jedem anderen Staat der Region. Neben Ausgangssperren und Grenzschließung umfasst er die Suspendierung mehrerer verfassungsmäßig garantierter Rechte wie Versammlungs- und Demonstrationsrecht und verleiht der Polizei Sondervollmachten. Dennoch ist Peru heute mit mehr als 150.000 Infizierten und über 4000 Todesopfern das proportional am stärksten betroffene Land Lateinamerikas.

Im April explodierte die Ansteckungskurve, da die verordnete Quarantäne von immer mehr Menschen nicht mehr eingehalten wurde, ja nicht eingehalten werden konnte. Denn zwölf Millionen Erwerbstätige leben buchstäblich von der Hand in den Mund. Tagelöhner und fliegende Händler, Marktfrauen, meist als „informeller Sektor“ umschrieben, die fast 19 Prozent des BIP erwirtschaften, haben weder Arbeitsrechte noch Rücklagen. Sie wohnen meist am Rande der Städte auf wenigen Quadratmetern und drängen sich in den Bussen, die sie ins Zentrum bringen, wo sie Arbeit finden können. Hunderttausende Migrantinnen und Migranten, 860.000 allein aus Venezuela, verschärfen das Problem. Ähnlich sieht es in Brasiliens Favelas aus. Von den mehr als 500.000 positiv Getesteten leben die meisten in prekären Verhältnissen, in Stadtteilen, wo Zugang zu Fließwasser die Ausnahme und Abstandhalten ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Für die Selbstständigen und informell Beschäftigten in den Favelas ist Homeoffice keine Option. Die meisten nehmen es daher in Kauf, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei der Arbeit angesteckt zu werden, wenn die Alternative heißt, das Geschäft zu schließen oder die Arbeit zu verlieren. Laut einer Studie droht in Favelas vor allem alleinerziehenden Müttern der Hunger, sollten sie ihr Einkommen einen weiteren Monat lang verlieren. Mangels staatlicher Programme greifen die Bewohner dieser Viertel zunehmend zur Selbsthilfe. So hat in Rios Favela Complexo da Maré die Initia tive Redes da Maré die Verteilung von Lebensmittelkörben und Hygieneartikeln organisiert. Damit hilft man doppelt, denn eingekauft wird in lokalen Geschäften. In Paraisópolis, São Paulo, hat eine Nachbarschaftsvereinigung Geld gesammelt, um drei Krankenwagen zu mieten, kostenlose Mahlzeiten an Obdachlose zu verteilen und ein dezentrales Netzwerk aufzubauen, das den Gesundheitszustand von über 100.000 Bewohnern beobachtet.

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