6974551-1985_42_06.jpg
Digital In Arbeit

Wahlen im Zeichen des totalen Chaos

19451960198020002020

Wirtschaftskrise und Terror behindern den Demokratisierungsprozeß in Guatemala. Nach den Wahlen am 3. November soll eine Zivilregierung das Erbe des Militärpräsidenten Mejia antreten.

19451960198020002020

Wirtschaftskrise und Terror behindern den Demokratisierungsprozeß in Guatemala. Nach den Wahlen am 3. November soll eine Zivilregierung das Erbe des Militärpräsidenten Mejia antreten.

Werbung
Werbung
Werbung

Mit großen Erwartungen und Hoffnungen blickt Zentralamerika, aber auch die restliche Welt, auf den in seine Endphase getretenen Demokratisierungsprozeß in Guatemala. Gab es noch vor wenigen Wochen Anzeichen und Gerüchte, die einen Staatsstreich oder einen Aufschub der Wahlen nicht ausschlössen, so zweifelt heute niemand daran, daß der Urnengang am 3. November erfolgen wird. Die Frage ist jedoch: Wie wird es nach den Wahlen weitergehen?

Die künftige Regierung, gleichgültig ob sie von der Rechten, der Mitte oder der Mittelinks stehenden Christdemokratie gestellt wird, tritt ein schweres Erbe an, das ihr die vorangegangenen Militärregierungen hinterlassen.

Schenkt man den Worten von Brigadegeneral und Vizestaatschef Rodolfo Lobos Zamora Glauben, liegt den Offizieren nichts mehr am Herzen, als die Verantwortung zivilen Politikern zu überlassen. Vor kurzem wurden sogar mehrere hohe Offiziere, die sich politisch betätigt hatten, vom Dienst suspendiert.

Somit scheint die Gefahr einer Rückkehr zu alten Zeiten gebannt. Doch für gefährlichen Sprengstoff sorgt die sich zusehends verschärfende wirtschaftliche und soziale Krise. Die zunehmende Verarmung der Unter-und Mittelschicht kann, abgesehen von sozialmotivierten Unruhen, auch die in die Defensive gedrängte Guerilla wieder neu beleben.

Momentan macht der guatemaltekische Untergrund nur mit sporadischen Aktionen in den Grenzprovinzen zu Mexico Hue-huetenango, Guiche, Alta Verapaz und Peten von sich reden. Meist handelt es sich hierbei um vereinzelte Scharmützel.

In den Jahren 1981/82 galten die vier Provinzen als Hochburgen des Untergrundes, der seine Mitglieder hauptsächlich unter der einheimischen Bevölkerung rekrutierte, die von der Regierung systematisch in die Marginalisie-rung getrieben worden war. Erst mit Hüfe einer militärisch-sozialen Strategie — den „polos de de-sarrollo“ —, der Schaffung sogenannter Entwicklungszentren, könnte der Guerilla weitgehend der personelle Zulauf abgeschnitten werden.

Neben dem sozioökonomischen Aspekt schuf man jedoch noch ein weiteres Bollwerk gegen die Guerillasubversion: die sogenannten Patrouillen der Zivilverteidigung, da die 40.000 Mann starke guatemaltekische Armee nicht das ganze nationale Terrain sichern kann.

Die Zivilverteidigung zählt heute etwa 900.000 Mann, von denen jedoch nur zehn Prozent mit Schußwaffen ausgerüstet sind. Der Rest muß sich mit Macheten oder dicken Knüppeln begnügen. Zahlreiche Patrouilleros haben schon ihr Leben beim Kampf gegen die Guerilla verloren.

Nachdem mit den „Polos“ vielen aus den ehemaligen Kampfgebieten gen Mexico geflüchteten Indios eine neue Existenz geschaffen wurde, kehrten viele in ihre Heimatregionen zurück. Laut Außenminister Andrade leben heute nur noch 46.000 Flüchtlinge im nördlichen Nachbarland. Doch die sichtbaren Erfolge von Militärs wie Regierung sind angesichts der katastrophalen Lage in den ländlichen Regionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Jahreseinkommen einer durchschnittlichen Indiofamilie liegt bei 500 Quetzales, umgerechnet etwa 140 US-Dollar. Eine Indiofamilie besteht im allgemeinen aus fünf Personen. Da zum Uberleben jede Hand gebraucht wird, müssen schon Achtjährige in der Landwirtschaft kräftig zulangen. Ein Ackerbau, der mehr der Selbsterhaltung als dem Erwerb dient.

Die wirtschaftliche Unsicherheit führte andererseits zu einer anhaltenden Kapitalflucht ins Ausland, deren Höhe von Ökonomen, gleich welcher politischen Schattierung, auf etwa vier Milliarden US-Dollar beziffert wird. Würden diese Gelder, möglicherweise unter einer künftigen Zivilregierung, nach Guatemala zurückfließen, wäre das Land gleichsam von heute auf morgen aus dem Schneider.

Die anhaltende soziale Verelendung breiter Bevölkerungskreise hat zu einem drastischen Anstieg der Prostitution, des Alkoholismus und der Kriminalität geführt. Verschiedene Regionen der Hauptstadt, besonders jedoch der Bereich um den Terminal, dem sogenannten Großmarkt, gelten als sogenannte Genickschußecken.

Die Militärs geben auf

Kaum ein Tag vergeht, wo es nicht zu Mord und Totschlag in dieser Region kommt. Trotz permanenter Razzien im Stadtteil Vier mit zuweilen Hunderten von Verhafteten kann die Polizei dem organisierten Verbrechen nicht

Herr werden.

„Oftmals sind die kriminellen Banden besser bewaffnet als wir“, erklärte jüngst ein Polizeioffizier.

Guatemalas Zukunftsaussichten sehen nicht gerade rosig aus. Die von sämtlichen Parteien in ihren Wahlprogrammen versprochenen Reformen werden mangels vorhandener Gelder vorerst wohl auf dem Papier stehenbleiben. Doch an den ernsten, demokratischen Absichten sämtlicher Präsidentschaftskandidaten sollte keineswegs gezweifelt werden.

Von den insgesamt acht Anwärtern auf das erste Amt im Staate gelten der Christdemokrat Vini-cio Cerezo, der zentrumsorientierte Verleger Jorge Carpio Ni-colle und der Spitzenkandidat der Rechten, Mario Sandoval Alar-con, als Favoriten.

Sollte keine politische Gruppe bei den Wahlen die absolute Mehrheit für ihren Kandidaten erringen, käme es zu einem zweiten Wahlgang im Dezember.

In der zweiten Runde treten die beiden Erstplazierten gegeneinander an. Wenn man sich auch im Rahmen des noch laufenden Wahlkampfes gegenseitig verbal den Schädel einhaut, lassen Politiker hinter der vorgehaltenen Hand verlauten, daß angesichts der chaotischen nationalen Situation eine Regierung der nationalen Einheit die angebrachteste Lösung sei.

Bisher ist der Wahlkampf, abgesehen von vereinzelten Zwischenfällen und vereinzelten Tiefschlägen unter die Gürtellinie, relativ ruhig verlaufen.

Zweifelsohne befindet sich Guatemala auf dem Weg in die Demokratie. Guatemala, dessen Image im Ausland aufgrund zahlloser Menschenrechtsverletzungen nicht das beste ist, versucht mit seiner neuen Verfassung auch diesen Makel allmählich abzuwaschen.

In der neuen „Magna Carta“ wird dem Schutz der Menschenrechte ein großer Raum eingeräumt. Führende Staatsrechtler halten den Abschnitt über Menschenrechte für einen der umfassendsten in der ganzen Welt.

Es wäre voreilig, schon jetzt den Stab über den Demokratisierungsprozeß zu brechen, vielmehr sollten weltweit die Bemühungen der zentralamerikanischen Demokraten unterstützt werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung