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Mexikos Krise: Ein Volk auf dem Kreuzweg

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Der „schwarze Freitag" der mexikanischen Wirt-

schaftsgeschichte liegt zwei Jahre zurück: Im August 1982 stellte der ölriese Mexiko plötzlich seine Schuldendienste ein und stand mit neunzig Milliarden Dollar in der Kreide. Wie Hohn klangen da die selbstgefälligen Worte des damaligen Präsidenten Lopez Por-tillo, der noch wenige Monate zuvor davon gesprochen hatte, den „Uberfluß verwalten" zu wollen.

Kein Wunder, daß man heute in Mexiko auf Lopez Portillo nicht mehr gut zu sprechen ist, genausowenig wie auf dessen Vorgänger Luis Echeverria. Als „tragi-

sches Jahrdutzend" (1970 - 1982) haben mittlerweile die zwei Se-xennien des demagogischen Populismus, der zwei Amtsperioden lang den Blick auf Potemkinsche Dörfer aus Wirtschaftswunderflitter gelenkt hatte, Eingang in die jüngere mexikanische Geschichte gefunden.

Der neue Präsident, Miguel de la Madrid, hat notgedrungen die Bremsen angezogen, Sparmaßnahmen auf die Tagesordnung gesetzt, den Gürtel enger schnallen lassen. Der Sanierungskurs, den das mit 89,8 Milliarden verschuldete Mexiko auf Empfehlung des Internationalen Währungsfonds eingeschlagen hat, hat dem 70-Millionen-Einwohner-Land unter den Schuldnerländern das Prädikat „musterschülerhaft" eingebracht. Ein Faktum, das freilich einem großen Teil der Bevölkerung keine Begeisterung abringen kann, zu sehr hat sie unter der verschriebenen Roßkur zu schmachten.

„Das gekreuzigte Volk", überti-^

telte die mexikanische Wochenzeitschrift „Proceso" lakonisch eine ökonomische Bestandsaufnahme Ende Mai dieses Jahres: Drei Dutzend der größten Unternehmen des Landes stünden vor dem Bankrott, 60 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung — rund 12 Millionen Menschen — seien nicht- oder unterbeschäftigt, von den acht Millionen Arbeitenden erhielten 50 Prozent den Mindestlohn.

Hinzu kommt der Vorwurf der zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheit. Die Kluft zwischen arm und reich ist allem Anschein nach größer geworden.

Die Inflationsrate liegt laut dem Londoner „Economist" bei über 90 Prozent. Die Lohnerhöhungen von 30 Prozent Anfang dieses Jahres haben den Kaufkraftverlust nicht ausgleichen können.

Das Realeinkommen des Durchschnitts-Mexikaners ist in den vergangenen Jahren fast um die Hälfte gesunken. Die schwelende Inflation hat ein wenig investitionsfreundliches Klima geschaffen, die Chancen auf eine rasche Gesundung der mexikanischen Wirtschaft stehen nicht gerade gut.

Verhaltener Optimismus ist dennoch angebracht. Der Rückgang des Bruttoinlandproduktes dürfte nach den Krisenjahren 1982

und 1983 erstmals zumindest gestoppt worden sein. Für 1985 prognostizieren Wirtschaftsforscher wieder eine drei- bis vierprozen-tige Wachstumsrate.

Hoffnungsfroh zeigt man sich vor allem hinsichtlich erweiterter Exportmöglichkeiten, auch wenn Staatspräsident Miguel de la Madrid bei seiner jüngsten Reise zum großen Nachbarn im Norden den Protektionismus in den USA beklagte, der sein Land daran hindere, größere Sprünge zu machen. Das neuerliche Anziehen der Dollarzinsen macht es dem krisenbewußten Mexiko darüber hinaus auch nicht gerade leicht, seinen Schuldenberg abzutragen.

Mittels Importdrosselung und Exportanstrengungen hat man trotzdem einen anschlichen Handelsbilanzüberschuß erwirtschaftet. Ein zunehmendes Devisenpolster der Staatskasse mag Beweis für einen leichten Aufwärtstrend sein, den die Mexikaner selbst auf dem Papier zu sehen, bis jetzt aber nicht zu spüren bekommen.

Die außergewöhnlich hohe Arbeitslosenrate wiederum glaubt man als Preis der Stabilisierung hinnehmen zu müssen.

„Man gehorcht dem Ausland, begünstigt Unternehmen auf Kosten der Arbeiter" — so spiegelt sich die aufkeimende Unzufrie-

denheit in der Presseberichterstattung wider, die nicht selten harte Worte für entdeckte Versäumnisse der Regierung findet.

Die traditionsreiche mexikanische Landwirtschaft, so die Kritik, habe abgewirtschaftet. Schon 1982 habe man um 37,65 Millionen Dollar US-Mais einkaufen müssen, 1983 seien es gar 643 Millionen Dollar gewesen, die man für „das Grundnahrungsmittel der meisten Mexikaner" ausgab. Die wachsende Abhängigkeit von den USA läßt das Bild einer allzu innigen Umarmung aufkommen, was nicht nur bei den national gesinnten Puristen auf Unmut stößt.

Ein Blick auf die demographische Struktur der mexikanischen Bevölkerung zeigt, daß Mexiko eine .junge Nation" ist. Etwa die Hälfte der Mexikaner zählt noch keine 15 Jahre. Nach einer Studie des Arbeitsministeriums ist die Mehrheit der Arbeitslosen zwischen 15 und 24 Jahre alt.

Kinderarbeit bis zum Alter von 14 Jahren ist zwar offiziell verboten. Aber allein in der 18-Millio-nenmetropole Mexico City arbeiten rund 1,7 Millionen Kinder und Jugendliche in den Grauzonen der Wirtschaft, verdingen sich ihren Unterhalt als Autowäscher, Schuhputzer, Gepäckträger, Kaugummiverkäufer.

Laut Ramön Aguirre Veläz-

quez, Gouverneur der Hauptstadt, müssen allein in Mexico City 400.000 Familien mit weniger als dem Mindestlohn ihr Auslangen finden. Daß viele die eigenen Kinder auf die Straße schicken, um das Uberleben zu sichern, klingt deshalb wenig verwunderlich.

Noch immer sind 40 bis 50 Prozent der mexikanischen Bevölkerung unterernährt, mehr als 100.000 sterben im ersten Lebensjahr wegen mangelnder Ernährung.

Wie die Regierung es anstellen will, jährlich eine Million neuer Arbeitsplätze zu schaffen, wie das notwendig wäre, gerät ebenso zur offenen Frage wie das ungelöste Problem der beschleunigten Landflucht und das damit verbundene unkontrollierte Wachsen der Städte, vor allem der Metropole Mexico City.

Das Damoklesschwert des völligen Zusammenbruchs hängt weiter über dem Land. Das wissen die Mexikaner und ihre Regierung. Das Wissen um die Notwendigkeit der mehr als nur unbequemen Gratwanderung zwischen Einsparungsmaßnahmen und dem nackten Uberleben wiederum läßt sie Geduld üben.

Daß die Sozialpartnerschaft zwischen dem mächtigen Gewerkschaftsverband CTM und den Vertretern der Unternehmerseite folgenschwere Streiks oder gar blutige Aufstände bis jetzt verhindert hat, scheint erwiesen. Ebenso, daß Korruption und „Freunderlwirtschaft" auch im heutigen Mexiko zumindest „mitregieren".

Trotzdem: Die „Partei der institutionellen Revolution" (PRI), die schon mehr als ein halbes Jahrhundert die Regierungsgeschäfte in Mexiko führt, ist immer noch mächtig genug, ihr Programm durchzusetzen.

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