Afrika Flüchtlinge - © Foto:  picturedesk.com / dpa /Henry Wasswa

Innerafrikanische Migration: Zwischen Traum und Beschluss

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Wer glaubt, auf dem afrikanischen Kontinent bewegten sich alle Migranten Richtung Norden, der irrt. Längst haben viele ihre Chance unweit ihrer eigenen Heimat erkannt.

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Wer glaubt, auf dem afrikanischen Kontinent bewegten sich alle Migranten Richtung Norden, der irrt. Längst haben viele ihre Chance unweit ihrer eigenen Heimat erkannt.

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Immer wieder diese Bilder: Menschen in Booten, ausgezehrt, erschöpft, verängstigt. Es sind die Überlebenden einer Migrationsbewegung, die abertausende Menschenleben gefordert hat – die nach Südeuropa reichende Spitze eines Phänomens, das weit größer ist. Das Mittelmeer ist die nur sichtbare letzte Hürde auf einer Reise voller Fallstricke. Aber: Es irrt, wer glaubt, in Afrika bewege sich alles gegen Norden. Und alle Menschen hätten dabei nur ein Ziel: Europa. Laut der „International Organization for Migration“ (IOM) bleiben 70 bis 80 Prozent der migrierenden Menschen in Afrika – nicht aus Mangel an Optionen, sondern weil sie das so wollen. Und dem zugrunde liegt laut Michele Bombassei von der IOM in Dakar, Senegal, eine grundlegend andere Haltung.

„In Europa wird Migration teils als etwas Negatives gesehen, als Bedrohung, als Herausforderung. Nicht so in Afrika. Da wird sie als Chance gesehen, als Möglichkeit, sich sozial und persönlich zu entwickeln“, sagt Bombassei. Nicht zuletzt aber ist die Migration vor allem auch ein maßgeblicher Wirtschaftsfaktor für eine ganze Region – besonders innerhalb der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS. Zwischen den 15 Staaten der Gemeinschaft herrscht ein freier Waren- und Personenverkehr. Als „Schlüsselfaktor“ für die Wirtschaft bezeichnet Bombassei den Personenverkehr. Ein Faktor, der jedoch schwer in Zahlen festzumachen sei, weil er sich vor allem im informellen Wirtschaftsbereich abspiele. Laut IOM-Schätzungen sind rund 8,4 Millionen Menschen in Westafrika unterwegs. Die allermeisten kommen aus der Region. Dies ist eine Folge erhöhter Arbeitsmobilität. Grenzen sind dabei zumindest innerhalb der ECOWAS kein Faktor, so sie denn offen sind. Wegen der Pandemie sind viele Grenzen derzeit nämlich geschlossen – und das hat beträchtliche wirtschaftliche Folgen.

Arbeitsmigration als Hauptfaktor

Eine wie in Europa zunehmend nationalistische Politik werde auf dem gesamten Kontinent immer öfter sichtbar, wie die Migrationsforscherin Franzisca Zanker vom Arnold-Bergstraesser-Institut für kulturwissenschaftliche Forschung sagt. Laut Zanker ist es eine Reihe von Migrationsbewegungen, die den Kontinent massiv verändern. So flüchten beispielsweise viele vom Südsudan und der Demokratischen Republik Kongo nach Uganda. Auch Arbeitsmigration spielt eine große Rolle. Angola oder Libyen waren hier einst wichtige Zielländer. Dies hat sich nun in Richtung Elfenbeinküste oder Südafrika verlagert. Ethnische oder nationale Communitys in den Zielländern würden dann wieder zum Anziehungspunkt in den Herkunftsländern – unabhängig von Distanzen, wie etwa eine große äthiopische Community in Südafrika beweist, so Zanker.

In Europa wird Migration teils als etwas Negatives gesehen, als Bedrohung, als Herausforderung. Nicht so in Afrika. Da wird sie als Chance gesehen, sich zu entwickeln.

Michele Bombassei

Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Afrobarometer haben je nach Land knapp 45 Prozent (etwa in Simbabwe) und 15 Prozent der Bevölkerung schon einmal mehr oder weniger ernsthaft darüber nachgedacht zu migrieren. Und Europa ist dabei viel eher ein Traum als ein fixes Ziel – und das auch nur für einen Teil derjenigen, die sich dann auch tatsächlich auf den Weg machen. „Traum und Beschluss sind zwei Dinge“, so Zanker. Zwischen „Aspiration und Tatsache“ gebe es „große Unterschiede“. Laut Afrobarometer wollen unter den Migrationswilligen 27 Prozent nach Europa. Die allermeisten möchten in der Region oder zumindest auf dem Kontinent bleiben. Aufgrund des Bevölkerungswachstums und der wirtschaftlichen Lage wird aber schon von einem steigenden oder zumindest gleichbleibenden Migrationsdruck ausgegangen – auch nach Norden. Es ist eine ganze Reihe an Faktoren, die hinter Migrationsbewegungen in Afrika stehen.

Und, das sei vorausgeschickt: Krieg, Seuchen und dysfunktionale Staaten spielen eine untergeordnete Rolle – also jene Dinge, die in Westeuropa gerne mit Afrika in Verbindung gebracht werden. Wirtschaftliche Gründe sind der maßgebliche Faktor. Oder anders gesagt: Jobs. Jene, die sich aufmachen – ob nach Europa oder in der Region –, gehören zu einem überwiegenden Teil der Mittelschicht an. Sie haben Ressourcen und auch Bildung.Das bedeutet aber nicht, dass es neben der Arbeitsmigration keine Fluchtursachen gibt. Zwischen Flucht und Migration verschwimmen jedoch häufig die Grenzen. Eine Unterscheidung mache in vielerlei Hinsicht auch keinen Sinn, so Zanker. „Wenn jemand etwa versucht, nach Europa zu kommen, und in Libyen hängenbleibt, hat diese Person sofort einen Fluchtgrund. Ein Flüchtling aus einem Kriegsgebiet aber, der in einem anderen Land in der Region strandet und keinen Job findet, wäre demnach ein Wirtschaftsflüchtling.“ Und letztlich sind die allermeisten Flucht- und Migrationsgeschichten genau solche. Im Niger etwa, einem der Transitländer zwischen Süd und Nord, bleiben Menschen mitunter Monate oder auch Jahre, um Geld für die Weiterreise zu verdienen. Der Weitertransport wurde allerdings illegalisiert. Für die Region um die Stadt Agadez hat das massive Folgen. „Das Transportwesen und auch der Tourismus haben eine sehr lange Tradition und sind echte Geldquellen“, sagt Zanker. Alte Transportstrukturen exis - tieren freilich auch weiter. Diese sind nun aber „teuer und riskant“, sagt die Expertin.

Wassermangel und Erderwärmung

Neben der Arbeitsmigration spielt auch der Klimawandel bei aktuellen innerafrikanischen Menschenbewegungen eine große Rolle. Der IOM-Experte Bombassei misst ihm bereits das für die Region Westafrika langfristig größte Konfliktpotenzial bei. Vor allem der Mangel an Wasser wird für breite Gesellschaftsschichten existenzbedrohend. Es sind Bewegungen von Viehzüchtern und ihren Herden über Grenzen hinweg, die der IOM-Experte in zunehmendem Maß als Faktor der Instabilität ausmacht. „Farmer haben mehr und mehr Gründe, Grenzen zu überqueren“, sagt Bombassei. Den Wassermangel infolge der Erderwärmung nennt er in manchen Regionen bereits „alarmierend“. Ein Phänomen, dessen Ausmaße in Europa nicht so sichtbar seien und wenig beachtet würden. Bombassei widerspricht dabei aber dem Eindruck, die Afrika-Politik der EU reduziere sich auf die Themen Repatriierung und Sicherheit. Man müsse populistischen Theaterdonner ausblenden und die tatsächliche EU-Politik beurteilen. Bombassei bestreitet nicht, dass sich die EU aus verschiedenen Akteuren zusammensetzt, jeder mit unterschiedlichen Prioritäten.

Aber die EU sehe auch innerhalb ihrer Institutionen die Notwendigkeit, diese Unterschiede zu vermitteln. In Summe verfolge sie durchwegs längerfristige Ansätze – etwa die Unterstützung lokaler Entwicklungen und Partnerschaften mit afrikanischen Ländern. Kommenden Oktober soll im Rahmen eines EU-Afrika-Gipfels zudem ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Die im März veröffentlichten Grundzüge der neuen EUAfrika-Strategie lesen sich ambitioniert. Im Fokus stehen Nachhaltigkeit, Stabilität, Frieden, Sicherheit, Bildung, Forschung und Innovation. Leere Worte? Laut Bombassei keinesfalls. Generell sei die EU auf ein pragmatisches, für alle vorteilhaftes Verhältnis mit afrikanischen Staaten aus. Heikel wird es beim Thema Migration nach Europa.

Sowohl Franzisca Zanker als auch Michele Bombassei halten es für unabdingbar, legale Wege zu öffnen – weil diese für alle vorteilhaft seien. Einerseits für die Migranten, die sich einen lebensgefährlichen Weg ersparen würden, andererseits für die Aufnahmestaaten, die ein illegales Geschäftsfeld trockenlegen, Arbeitskräfte suchen könnten und die Probleme nicht hätten, die es mit sich bringt, wenn große Personengruppen in die Illegalität gedrängt werden.

Der Autor ist freier Journalist.

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