Ankunft in Österreich 2015 - seither sind die Asylanträge rapide gesunken - Insgesamt 88.340 Menschen stellten 2015 in Österreich einen Asylantrag. 2016 sank diese Zahl auf weniger als die Hälfte. Seither gingen die Anträge weiter rapide zurück bis auf 5424, den auch coronabedingt niedrigsten Wert im ersten Halbjahr 2020. - © AFP Photo / Patrick Domingo

Asyl in Österreich:„Eine zermürbende Zeit“

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Motiviert von der Hilfsbereitschaft vieler wollte Karin Strobl 2015 Hygieneartikel zum Wiener Hauptbahnhof bringen – fünf Jahre später ist ihre Familie um eine Flüchtlingsfamilie größer geworden.

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Motiviert von der Hilfsbereitschaft vieler wollte Karin Strobl 2015 Hygieneartikel zum Wiener Hauptbahnhof bringen – fünf Jahre später ist ihre Familie um eine Flüchtlingsfamilie größer geworden.

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Als sie den Schlüssel ins Schloss ihrer Wohnungstür steckte, hinter ihr drei fremde, übermüdete, ungewaschene Männer, überkam sie einen Moment lang der Zweifel. Nach „einer Millisekunde Innehalten“ drehte sie aber den Schlüssel um, machte ihre Tür für drei Flüchtlinge auf. Es war der 12. September 2015, ein Samstag. Karin Strobl arbeitete damals alsKommunikationschefin des Grünen Klubs im Parlament. Beruflich war sie dadurch jeden Tag mit den Folgen des Flüchtlingszugs nach und durch Österreich konfrontiert, am Wochenende wollte sie sich privat engagieren. Sie kaufte Hygieneartikel und lieferte diese mit ihrem Mann bei der Flüchtlingshilfe „Train of Hope“ am Wiener Hauptbahnhof ab, „bevor wir wieder in unser Leben zurückgehen wollten“. Auf dem Plan stand, sich mit Freunden im Prater zu treffen. Daraus wurde nichts. Schuld waren die seit Tagen brütende Spätsommerhitze, die fehlenden Sanitäranlagen und der Umstand, dass eine Flüchtlingshelferin auf Strobls Frage, ob sie noch etwas tun könne, angesichts der seit Tagen ohne Waschgelegenheiten schwitzenden Menschen antwortete: „Können welche bei euch duschen?“

Keine Casting-Show

Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel knapp zwei Wochen davor ihre gefeierten wie verurteilten Worte zum damaligen Flüchtlingstreck sagte: „Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“, da dachte sie mit Sicherheit nicht ans Duschen. Auch Strobl war irritiert. Fremde Menschen in die eigene Wohnung, ins eigene Bad lassen?Von der Flüchtlingshelferin überrumpelt, sagte sie „okay“, nicht ohne eine Bedingung zu stellen: „Frauen können gerne zu uns mitkommen.“ Daraufhin schaute ihr die Flüchtlingshelferin tief in die Augen, lächelte milde und antwortete: „Flüchtlingshilfe ist keine Casting-Show.“ Die verbale Breitseite verfehlte ihre Wirkung nicht. „Ich war baff, es war mir so peinlich, ich bin mir so dumm vorgekommen“, sagt Strobl. „Was bin ich für ein Trottel, hierherzukommen und Bedingungen zu stellen.“ Die junge Frau, eine Muslima mit Kopftuch, die ihr in breitestem Wiener Dialekt die Leviten gelesen hat, nennt Strobl heute einen „life changer“. Aber diese Ansage veränderte nicht nur ihr Leben und das ihres Mannes, sondern brachte auch eine Wende ins Leben von drei Flüchtlingen, die von der resoluten Fluchthelferin mit Strobl auf Duschausflug geschickt wurden.

Insgesamt 88.340 Menschen stellten 2015 in Österreich einen Asylantrag. 2016 sank diese Zahl auf weniger als die Hälfte. Seither gingen die Anträge weiter rapide zurück bis auf 5424, den auch coronabedingt niedrigsten Wert im ersten Halbjahr 2020. Insgesamt suchten in den vergangenen fünf Jahren 188.560 Flüchtlinge in Österreich um Asyl an. 118.390, das sind 62,8 Prozent, wurde Asyl, subsidiärer Schutz oder ein humanitärer Aufenthaltstitel erteilt. Internationale Studien zeigen, dass 50 Prozent der Asylberechtigten nach fünf Jahren Arbeit haben. Laut Arbeitsmarktservice (AMS) wäre diese Vorgabe in Österreich (so wie in Deutschland) erfüllt worden – hätte nicht Corona die Bilanz verhagelt. Ende Juli 2020 waren 33.966 anerkannte Flüchtlinge beim AMS gemeldet.

Wir haben die Türe aufgemacht, Verantwortung übernommen, die konnten wir nicht gleich wieder abgeben – noch dazu, wo die Stimmung gegen die Flüchtlinge schnell kippte.

Karin Strobl

So wie je nach Sichtweise das Glas bei der Arbeitsmarktsituation von Flüchtlingen halbvoll oder halbleer ist, so gegensätzlich in der Beurteilung ist auch der Blick auf den politischen Umgang in dieser Ausnahmesituation geblieben. Die Kluft zwischen den Befürwortern und Gegnern der Flüchtlingsaufnahme wurde in den vergangenen fünf Jahren um keinen Deut kleiner. „Was fortbesteht, ist eine Teilung der Gesellschaft in jene, die den Weg von 2015 für grundsätzlich falsch halten, und jene, die ihn bei aller Kritik verteidigen“, beschreibt der damals amtierende deutsche Innenminister Thomas de Maizière (CDU) den Status quo in Deutschland, der eins zu eins aufÖsterreich wie die gesamte Europäische Union übertragbar ist.

Am 12. September 2015 herrschte aber am Wiener Hauptbahnhof und darüber hinaus noch vorwiegend eine „Flüchtlinge willkommen“-Stimmung. Von fremden Eindrücken überwältigt, stand Mustafa (vollständiger Name der Redaktion bekannt) vor Karin Strobls Wohnungstür. Eine ihm unbekannte Frau hatte ihn und zwei weitere irakische Flüchtlinge am Bahnhof aufgelesen und mit nach Hause genommen. „So was ist im Irak undenkbar“, sagt er beim Treffen mit der FURCHE zum Jahrestag seiner Ankunft in Österreich. „Alles war anders, ich kam in ein fremdes Haus, mit fremden Leuten, ich durfte mich duschen, sie kochten für mich, der Mann kaufte eigens Cola für mich, wir aßen zusammen, wir schauten gemeinsam Fußball im Fernsehen, und ich durfte im Gästezimmer schlafen – das erste Mal nach 20 Tagen habe ich wieder in einem Bett geschlafen, die Tuchent so weiß, der Polster so weiß, so schön.“

Zukunftsweichen auf Grün

Ein Ereignis hatte Mustafa in seiner Aufzählung vergessen. Karin Strobl erinnert ihn daran, dass er und die beiden anderen zuerst um einen Internetzugang baten. „Dann saßen drei erwachsene Männer, drei harte Burschen – Mustafa hatte für den irakischen Geheimdienst gearbeitet, gegen den IS gekämpft, auf der Flucht waren sie ausgeraubt, mit dem Tod bedroht worden –, bei uns daheim auf der Bank“, erzählt Strobl über den für sie berührendsten Kennenlern-Moment: „Sie hörten die Stimmen ihrer Liebsten und weinten wie Schlosshunde.“

Am nächsten Tag begleitete Strobls Mann zwei der Flüchtlinge zurück auf den Bahnhof. Einem von ihnen kaufte er ein Zugticket nach Brüssel, und ein Nachbar legte spontan 100 Euro in die Reisekasse, da der Iraker weiter zu einem dort lebenden Onkel wollte. Seine Reise, Ankunft und Aufnahme gelangen. Der Kontakt zur Wiener Erstaufnahmefamilie blieb aber bis heute aufrecht. „Vater“ nennt der mittlerweile anerkannte Flüchtling Strobls Mann, da er mit seiner Hilfe in Wien neu geboren wurde. Bei einem Zusammentreffen in Belgienskypten sie zusammen mit der Familie im irakischen Falludscha – dieses Mal flossen Freudentränen bei allen.

Auch die gemeinsame Geschichte mit Mustafa ging weiter. Strobl begleitete ihn am Tag nach

ihrem Kennenlernen ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. Doch aus den Augen bedeutete für Strobl keineswegs aus dem Sinn: „Wir haben die Türe aufgemacht, damit haben wir auch Verantwortung übernommen, die konnten wir nicht am nächsten Tag schon wieder abgeben – noch dazu, wo wir mitansehen mussten, wie schnell die Stimmung gegen die Flüchtlinge und ihre Helferinnen und Helfer gekippt ist.“

Was folgte, war eine „zermürbende Zeit“ für den Flüchtling und seine Unterstützer. Nach langem Hin und Her und vielen Auf und Abs wurde Mustafa im Mai 2018 der Asylstatus verliehen – weil sein Leben und das seiner Familie vom Herkunftsstaat nicht geschützt werden kann. Ein weiteres halbes Jahr dauerte der „wahnsinnig komplizierte und teure“ Familiennachzug. Im November 2018 konnte Mustafa seine Frau und seine drei Töchter nach dreieinhalb Jahren wieder in die Arme schließen.

Die Kinder sind in Österreich aufgeblüht, besuchen Volksschule und Neue Mittelschule, sprechen bereits besser Deutsch als der Vater. Mustafas Frau bemüht sich um Anerkennung ihrer Qualifikationen als Mathematikprofessorin. Aber auch wenn die Jobsuche schwierig bleibt, fünf Jahre nach seiner Ankunft am Hauptbahnhof stehen die Zukunftsweichen für Mustafa und seine Familie auf Grün. Mustafa sagt, er habe sich immer eine ältere Schwester gewünscht. Am 12. September 2015 hat er sie getroffen. Zusammen mit anderen Unterstützern sind sie seither eines von vielen „Wir“, die Merkels „Wir schaffen das“ möglich machen.

Der Autor ist freier Journalist.

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