Katalysator Großstadt - © Illustration: Rainer Messerklinger

Leben in Wien: Eine Liebeserklärung an die Großstadt

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Alle großen Veränderungen beginnen in Städten. Man kann sie lieben oder verabscheuen, aber sie wirken wie Katalysatoren. Auch Wien. Eine Liebeserklärung.

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Alle großen Veränderungen beginnen in Städten. Man kann sie lieben oder verabscheuen, aber sie wirken wie Katalysatoren. Auch Wien. Eine Liebeserklärung.

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Aufgewachsen bin ich am Land. In der ersten Klasse Volksschule saß ich gemeinsam mit einigen Vierzehnjährigen, die ihre Schulpflicht in der ersten Schulstufe beendet haben. Vor mir ein Mitschüler mit Down-Syndrom. Er wurde mein Freund und blieb es bis zu seinem Tod. „Sonderpädagogische Betreuung“ bekam er keine: Der Lehrer war einfach lieb zu ihm.

Selbstmorde gab es, der „Wasserschuss“ galt als besonders sicher. Seltsamerweise häuften sie sich in einem kleinen Wäldchen gegenüber jener Stelle, an der einst ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen bestanden hatte. Heute steht dort eine kleine Gedenkstätte. Damals redete niemand darüber. Eine ehemalige Kommunistin suchte noch Jahrzehnte nach dem Kriegsende nach jenem Ortsbewohner, der sie wegen angeblicher Kontakte zu russischen Zwangsarbeitern angezeigt hatte. Sie fand den Denunzianten nicht. Man wusste, wer er war, aber der Ort schwieg.

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In einem nahegelegenen Bauernhof arbeitete ein Transvestit. Ortsbewohner boten ihm im Wirtshaus Bier an, wenn er sich zeigte. Der Pfarrer saß mit dem Bürgermeister in der Konditorei. Bei Blasmusikfesten spielten Gastkapellen den Badenweiler Marsch. Als mich meine Mutter zur Aufnahmsprüfung ins Gymnasium anmeldete, meinte der Zahnarzt, das seien schöne Zeiten, wenn jetzt sogar schon die Kinder von Arbeitern ins Gymnasium wollten. Erwachsene musste man grüßen, ausnahmslos. Es war ein gesundes Landleben.

Anonymität der Stadt als Befreiung

Als ich mit 17 Jahren nach Wien kam, mochte ich die Stadt überhaupt nicht. Sie war grau und trug noch die Narben der Kriegszeit. Keine Bäume. Fiel Schnee, war er am nächsten Tag schwarz vom Ruß der Briketts der Wohnungsöfen. Wenn ich beim Gang zur Universität die Menschen grüßte, bekam ich keine Antwort. Ein gepflegter älterer Herr wartete täglich bei der Bellaria auf mich und lud mich zum Essen ein. Er war homosexuell. War etwas falsch an mir? Nein, ich liebte Wien nicht. Heute kann ich mir ein Leben ohne Wien nicht vorstellen. Das aber dauerte Jahre.

Nach und nach begann ich, die Anonymität der Stadt als Befreiung zu erleben. Sprach man am Land von einer Frau, definierte man sie als „die Frau vom…“ und nannte den Namen des Ehemanns. In der Stadt war sie einfach eine Frau mit einem Namen. Fand ich am Land in der kleinen Marktbibliothek nur ein paar zerschlissene Exemplare von Karl May, gab es in den Städtischen Büchereien einen Menschen, der mir „Fasching“ von Gerhard Fritsch empfahl.

Die Universitätsinstitute mied ich, aber der große Lesesaal der Nationalbibliothek wurde meine Heimat. Ich liebe ihn bis heute. In der Judengasse suchte ich das Haus, von dem aus Adalbert Stifter 1842 die Sonnenfinsternis beobachtet hatte. Ich fand aber nur ein Geschäft mit der Aufschrift „O. Tannenbaum“. Heute verwende ich das als Mail-Adresse. Juden, die ich mir als irgendwie „besondere“ Menschen vorstellte, erkannte ich nicht. Bei klassischen Konzerten war ich am Stehplatz: Bernstein, Mahler. Jazz interessierte mich.

Ich mag die Stadt, verfluche sie gelegentlich und möchte ohne sie nicht leben. Ich lebe mit Wien und liebe Wien. Es hat mich vom gesunden Landleben befreit.

In der „Schallplattenwiege“ am Graben blätterte ich die Platten durch, kaufte John Coltrane. Der Ladeninhaber war nicht sehr freundlich. Sein Name stand klein gedruckt über der Tür: „Eldon Walli“. In der „Reichskristallnacht“ hatte er mit überschlagender Stimme das Brennen der Synagoge geschildert. Jetzt verkaufte der einst vom Feuer so Begeisterte Schallplatten, am Graben, unweit vom Tempel in der Seitenstettengasse.

An der Universität herrschte behäbiger Aufruhr. Ein Demonstrationszug führte zum Minoritenplatz. „Piffl, wir kommen!“ war der Schlachtruf. Ich stand an der Mauer der Minoritenkirche, mit Blick auf das Ministerium. Man schrieb 1966 oder 1967. Keine zehn Jahre später sollte ich „zur Dienstleistung im ho. Ministerium für Unterricht und Kunst einberufen“ werden. Ich sah bei der Angelobung aus dem Festsaal auf die Stelle, wo ich als Demonstrant gestanden war. Ironie der Geschichte?

Das „Revolutions“-Jahr 1968 war ein städtisches Phänomen. Am Land knurrte man: „Die Studenten! Sollen studieren, nicht demonstrieren!“ In der Stadt herrschte Protest. Eine Tafel wurde aus einem Hörsaal „entführt“. Man ließ im Festsaal der Uni Luftballons steigen. Skandierte vom „Muff von tausend Jahren“. Ich war Zaungast, nicht mehr. Auch beim so genannten „Hörsaal-Skandal“ und bei Happenings der Wiener Gruppe im Restaurant „Grünes Tor“ in der Lerchenfelderstrasse. Amüsiert hat es mich schon, als sich einmal Friedensreich Hundertwasser vor der Wiener Kulturstadträtin seiner Kleider entledigte. Sie flüchtete aus dem Saal. „Die Nackten und die Roten“, lautete am nächsten Tag die Überschrift einer Zeitung. Man las Nennings Neues Forum. Lesen, lesen, lesen, wie man es damals nur in Wien mit all den Bibliotheken, Archiven, Buchhandlungen und Antiquariaten konnte. Kreisky auf der Ringstraße gesehen, rote Haare. Später öfter begegnet.

„If you can make it there …“

Alle großen Veränderungen beginnen in Städten. Man kann die Städte vergöttern oder hassen, aber sie prägen unser Leben. Städte sind Katalysatoren. Wien war, Wien ist einer. If you can make it there you’ll make it everywhere. Wien hatte damals ein einziges Kino mit internationalen Filmen. Heute komme ich dem cineastischen Angebot kaum nach. In Wien besuchen pro Woche, Corona nicht gerechnet, mehr Menschen die Konzertsäle als Fußballplätze. Weltstars treten auf in Wien, das einst eine gemiedene graue Stadt am Eisernen Vorhang war.

Die Wiener Verwaltung gilt zu Recht als international vorbildlich. Dass in Frostnächten Obdachlose, die im Freien schlafen, aufgesucht, verpflegt und behandelt werden, ist angewandte Humanität. „Rathaus, bitte warten…“, gehört der Vergangenheit an. Ich bin, bei all meiner ländlichen Identität, ein Wiener geworden. Mag die Stadt, verfluche sie gelegentlich und möchte ohne sie nicht leben. Wien ist Vielfalt, ja, auch komplizierte Vielfalt. Aber das Gegenteil von Vielfalt ist Einfalt.

Wien ist Vielfalt, ja, auch komplizierte Vielfalt. Aber das Gegenteil von Vielfalt ist Einfalt.

Die türkische Schneiderin ums Eck kürzt meine Hosen. Die dunkelhäutige Opernsängerin aus Äthiopien, die ich bewundere, lernt mit mir Deutsch: Phantastisch, ihre Disziplin und Begabung. Ist sie eine „Migrantin“? Mein Freund, ein junger Dirigent, der aus Serbien stammt, erklärt mir Schostakowitsch und Webern. Die Bauarbeiter in der Neustiftgasse stehen in Staub und Dreck und radebrechen auf Deutsch „Guten Tag!“, wenn ich sie grüße. Die Zeitungsausträger, die mir frühmorgens die Neue Zürcher vor die Wohnungstür bringen, sehe ich nicht. Zu Weihnachten hat mir einer ein freundliches „Danke, Herr Kurt“ auf einen Zettel gekritzelt. Er hielt meinen Vornamen für den Familiennamen.

Böse Ausländer allesamt? Ja, es gibt sie. Gefährliche Stadt? Ja. Mein Sohn wurde als Schüler in Wien zwei Mal überfallen und ausgeraubt. Gesundes Landleben? Einmal hat ein Gendarm in meinem Heimatort einem jungen Mann den Arm gebrochen, als er ihn festnahm, mit einem „Polizeigriff“. Den wollten wir Buben auch lernen, aber er blieb irgendwie geheim. Als Kind bin ich knapp einem „Amokläufer“ entgangen, am Land. Der Ausdruck „Amokläufer“, von der Mutter mit Schaudern genannt, prägte sich mir ein. Sicheres Landleben? Mir wird niemand Wien abspenstig machen.

„Türkensturm“, „Wien soll nicht Chicago werden“, die „Trutzburg Rathaus“, jetzt das Plakat mit dem brennenden Stephansdom, die angebliche „Niveaulosigkeit“ der Schulen, die „faulen Wiener Spätaufsteher“, das alles sind Schlagworte, die mehr über jene aussagen, die sie im Munde führen als über die städtische Widersprüchlichkeit. Ein bisschen durfte ich für Wien arbeiten, wie Otto Glöckel einst als Lehrer in Ottakring, dann im Unterrichtsministerium, wo ich ein Aufgabengebiet des ehemaligen Ministers Heinrich Drimmel übernehmen durfte, zehn Jahre lang als denkende Hand eines legendären Wiener Bürgermeisters, schließlich im Stadtschulrat und jetzt in mehreren ehrenamtlichen Funktionen.

Wien hat mein Leben bereichert. Primitive Wienkritik ärgert mich, die subtil-untergriffige noch mehr. Am Land zwischen Loden und Gamsbärten aufgewachsen, bin ich gegen eine Verlodung und Vergamsbartung Wiens. Verteidige Wien, wo ich kann, auch wenn ich mich manchmal über Politikerinnen wundere und das Rathaus nur mehr bei Bällen betrete. Ich lebe mit Wien und liebe Wien. Es hat mich vom gesunden Landleben befreit.

Der Autor, Jahrgang 1948, war amtsführender Stadtschulratspräsident von Wien und u.a. Sonderbeauftragter der Stadt für Restitutions- und Zwangsarbeiterfragen.

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