Stimmen, die nicht zählen

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Das Projekt „If no vote, at least voice“ fragte bei nicht wahlberechtigten Wienern nach ihren politischen Positionen. Ein Gastkommentar.

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Das Projekt „If no vote, at least voice“ fragte bei nicht wahlberechtigten Wienern nach ihren politischen Positionen. Ein Gastkommentar.

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Wien wächst und damit das Demokratiedefizit. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der Prozentsatz der Wiener, die auf Gemeindeebene nicht wahlberechtigt sind, verdoppelt. Zu ihnen gehören EU-Bürgerinnen und -Bürger, denen das kommunale Wahlrecht am Wohnort nach europäischer Gesetzgebung zwar zusteht – doch Wien ist nicht nur Gemeinde, sondern auch Bundesland. Daher dürfen EU-Bürger nur auf Bezirksebene wählen. Drittstaatsangehörige sind völlig von der Mitbestimmung ausgeschlossen. Welche Themen wären für nicht-österreichische Staatsbürger wahlentscheidend? Welche Aspekte würden sie in die Wiener Politik einbringen, müssten wahlwerbende Parteien auf ihre Stimme achten?

Im Rahmen der Förderschiene „Digitaler Humanismus“ der Stadt Wien führten wir an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das Projekt „If no vote, at least voice“ durch. Um die politischen Positionen der Nichtwahlberechtigten kennenzulernen, befragten wir in einem Minipopulus Menschen, die jene 30 Prozent in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Einkommensschicht und Staatsbürgerschaft repräsentieren: Im Vergleich zur wahlberechtigten Wiener Bevölkerung sind Nichtwahlberechtigte durchschnittlich jünger, mehr Männer als Frauen, haben niedrigere formale Bildungsabschlüsse und gehören niedrigeren Einkommensschichten an.

Die Ergebnisse zeigen, dass Nichtwahlberechtigten die gleichen Themen wichtig sind wie der wahlberechtigten Bevölkerung (etwa Klima- und Umweltschutz sowie Bildung), allerdings ergänzt beziehungsweise überlagert durch ihre je eigenen Diskriminierungserfahrungen. So bringen (oder eher: brächten) Nichtwahlberechtigte Themen in die Wiener Politik ein, die sich mit den politischen und sozialen Rechten von Migrantinnen und Migranten beschäftigen, und forderten von der Stadt Wien Anti-Diskriminierungsmaßnahmen.

Der Ausschluss vom Wahlrecht hindert Menschen daran, sich dort politisch zu beteiligen, wo sie oft schon seit Jahren oder Jahrzehnten leben. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft, den das Wahlrecht voraussetzt, ist allerdings teuer – so teuer, dass ihn sich viele geborene Österreicher nicht leisten könnten, müssten sie darum ansuchen. Dies führt dazu, dass es gerade die ärmeren Bevölkerungsschichten sind, die sich den „Kauf“ des Wahlrechts nicht leisten können. Schließlich wird dadurch die Repräsentation im Gemeinderat sozial ungleich, weil vor allem junge Wiener, Arbeiterinnen und Arbeiter, jene der unteren Einkommensklasse und Bewohner bestimmter Bezirke nicht entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung im Wahlergebnis vertreten sind. Ihre politischen Anliegen sind systematisch ausgeschlossen.

Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung.

Monika Mokre forscht am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österr. Akademie der Wissenschaften

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