Flüchtlingszelte als Zeugen des Scheiterns - Zelte sind in den großen Flüchtlingslagern der Welt gang und gäbe. Hierzulande stehen sie für politische Blockaden und föderalen Streit – weil es für alle ein Dach über dem Kopf gibt. - © APA / Daniel Scharinger

Flüchtlingszelte und die Zerbrechlichkeit der Sesshaften

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Vom Innenministerium aufgestellte Flüchtlingszelte lassen die Wogen hochgehen. Für Migrationsforscherin Judith Kohlenberger eine Folge des Fluchtparadox und der Auslagerung von Verantwortung.

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Vom Innenministerium aufgestellte Flüchtlingszelte lassen die Wogen hochgehen. Für Migrationsforscherin Judith Kohlenberger eine Folge des Fluchtparadox und der Auslagerung von Verantwortung.

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Warum lassen ein paar Dutzend Zelte von einem Tag auf den anderen die seit Monaten vor sich hinköchelnde, aber nie die Schallmauer des öffentlichen Interesses durchbrechende Flüchtlingsdiskussion hochkochen? „Die dümmste Unterbringung, die es geben kann“, schimpfte der VP-Bürgermeister von St. Georgen im Attergau, Ferdinand Aigner, in dessen Gemeinde übers Wochenende 15 Zelte aufgestellt und belegt wurden, in Richtung Innenministerium. Dieses verteidigt die Maßnahme damit, dass sieben Bundesländer (Ausnahmen Wien und Burgenland) ihre Quoten bei der Flüchtlingsaufnahme nicht erfüllen.

Den mit Zelten ausgetragenen Flüchtlings-Streit als (wieder einmal) eskalierende Feilscherei um föderalistische Lastenverteilung abzutun, greift aber zu kurz. Die weißen Zeltplanen bieten nämlich ausreichend Platz für 2015er-Projektionen. Warum bei dieser Rückschau vor allem vom „Flüchtlingstrauma“ und kaum wahrnehmbar von einer durchaus auch berechtigten „Wir haben das geschafft“-Erinnerung gesprochen wird, ist der europaweiten „3A-Asylpolitik“ aus Abschottung, Abschreckung und Auslagerung geschuldet. Würde 2015 auch als Erfolgsgeschichte tradiert, wozu es genügend Positivbeispiele gäbe, stünde ein anderes A ganz vorne, das für Aufnahme.

Wie sollen Flüchtlinge sein?

Die Gründe für die 3A-Dominanz beschreibt die Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger in ihrem Buch „Das Fluchtparadox“. Mit vielen Belegen untermauert sie darin ihre These, „dass der Themenkomplex Flucht und Asyl von zentralen Paradoxien geprägt ist, die eine Lösung der sogenannten ‚Flüchtlingsfrage‘ schon a priori verunmöglichen“.

Drei zentrale Paradoxien, um die sich viele weitere ranken und die eine Kaskade von sicherheits-, sozial- und integrationspolitischen Maßnahmen auslösen, streicht die an der Wirtschaftsuniversität Wien arbeitende Migrationsforscherin hervor. An die erste Stelle stellt Kohlenberger das Asylparadox: Da es für Flüchtende keine legalen Zugangswege in die EU gibt, müssen sie für den Grenzübertritt Recht brechen, um zu ihrem Recht auf einen Asylantrag zu kommen. Flüchtlingsparadox nennt sie den Widerspruch in sich, dass Flüchtlinge gleichzeitig schwach und schutzbedürftig, aber auch leistungswillig und integrationsfähig sein sollen. Daran schließt das Integrationsparadox an, in dem sich das mit Flüchtlingen einhergehende gesellschaftliche Konfliktpotenzial widerspiegelt: In der Zuschreibung, wie Flüchtlinge zu sein haben, „ist man hierzulande von jeher erbarmungslos“, schreibt Kohlenberger und verweist auf die Diskussionen, welche Automarken oder Mode-Ansprüche ukrainischen Flüchtlingen zugestanden werden: „Einerseits verdeutlichen die Reaktionen auf ukrainische Ankommende, wie sehr sich der gut situierte Westeuropäer nach Flüchtlingen sehnt, die ihm optisch wie kulturell ähnlich sind. Andererseits aber, womit wir wieder im Paradoxen sind, auch nicht zu ähnlich, denn ein gewisses Gefälle zwischen Geflüchteten und Sesshaften soll dann doch gewahrt bleiben.“

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