Zerreißprobe - © Fotomontage: iStock / francescoch

Gar keine Kompromisse? Nein danke!

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„Don’t compromise. You are all you’ve got.“ Janis Joplins Songtext aus den 1970ern klingt wie das Leitwort für Gesellschaften der 2020er. Aber Kompromisslosigkeit wie Kompromissfähigkeit dürfen nicht absolut gesetzt werden.

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„Don’t compromise. You are all you’ve got.“ Janis Joplins Songtext aus den 1970ern klingt wie das Leitwort für Gesellschaften der 2020er. Aber Kompromisslosigkeit wie Kompromissfähigkeit dürfen nicht absolut gesetzt werden.

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Im Herbst 1982 befindet sich ein Entwicklerteam eines aufstrebenden Unternehmens aus dem Silicon Valley auf Klausur in der Nähe von Monterey. Thema ist der richtige Zugang zu einem aktuellen Projekt: Entscheidend sind schließlich nicht nur technisch bessere Lösungen, sondern auch das zugrundeliegende mindset – darauf legt der Leiter der Gruppe, zugleich einer der Firmengründer, Wert. Beim Herbst-Meeting 1982 schwört er seine Entwickler, die vor deadlines immer wieder pragmatisch agieren und Abstriche machen, auf die puristische Haltung von Künstlern ein. Als erstes Leitprinzip notiert er: „Don’t compromise! – Keine Kompromisse!“

Was Steve Jobs auf der Herbstklausur des Macintosh-Teams bei Apple predigte, ziert heute Motivationsposter in start ups auf allen Kontinenten. Man hat es dabei aber kaum mit einer Philosophie zu tun, die bloß auf Businesskreise beschränkt ist, sondern mit einer Lebenseinstellung: Es geht allgemein um Individualität in der Moderne, um das start up der eigenen Biografie, die Ästhetik der eigenen Existenz – und zwar unter Vorzeichen einer Erlösung: Wohl und Wehe, Heil und Unheil der eigenen Identität hängen damit zusammen. Wo man sich in zweitbesten Lösungen einrichtet, läuft man schnell Gefahr, nicht nur Ziele und Ideale zu verfehlen, sondern auch das eigene Selbst zu kompromittieren. Nichts freilich wäre schlimmer als das, was die Sängerin Janis Joplin bereits ein Jahrzehnt vor Jobs formuliert hat: „Don’t compromise. You are all you’ve got.“

Leben ist keine Glückskeks-Poesie

Joplins Maxime katapultiert uns aus der kalifornischen Vergangenheit in globale Gegenwarten. Das Ideal, sich selbst und seinen Prinzipien treu zu bleiben, begegnet uns heute nicht nur als semi-ironisches „Bleib dir und deinen Idealen treu!“ in GlückskeksPoesie, sondern als ernster Anspruch im Alltag. Wo alles mit allem verwoben ist, rührt man gewissermaßen ständig ans Prinzipielle – und stets gilt es, klare Kante und Haltung zu zeigen: beim Kochen (welche Zutaten mit welcher Herkunft?) nicht weniger als beim Autokauf (welche Ökobilanz?), im Elternverein (welche Klassenlektüre mit welcher Begrifflichkeit?) ebenso wie bei der NGO-, Kirchen- oder Partei-Mitgliedschaft: Was kann man noch mittragen, auch wenn man nicht hundertprozentig dahintersteht – und wo sind rote Linien überschritten?

Mit Fragen wie diesen werden Biografien in einen Modus beständiger Gewissenserforschung versetzt – es ist nicht zuletzt die Folge einer emanzipatorischen Moderne, die Subjekten Identitäten nicht mehr qua Autorität aufzwängt, sondern ihnen diese eröffnet und zumutet. Zugleich geraten damit aber auch die feinsten Gewebe, die Menschen zu fabrizieren vermögen, in eigentümliche Dauerspannung: die Netze sozialer Beziehungen. Wo vormals die Autorität der Tradition die Vergemeinschaftung schlicht vertikal vorgab, benötigen sie nun horizontal das Medium diskursiver Verständigung, um legitim zu sein – und die Elastizität von Kompromissen, um nicht zu zerreißen. Gerade die Bewältigung der großen Herausforderungen der Gegenwart – sei es Klimawandel, sei es die Pandemie – brauchen die gemeinsame Anstrengung, sie brauchen das Wir. In der Welt des moralischen Maximalismus, der keine Abstriche duldet, schrumpfte dieses Wir aber unweigerlich zur filter bubble der wenigen Reinen – und selbst die Reinheit dieser Zeloten bliebe ständig prekär.

Offensichtlich also bilden diese beiden Kinder der Moderne – Kompromisslosigkeit als Index von Identitätsarbeit und Kompromiss als Erfordernis gelingender Vergemeinschaftung – eine spannungsreiche Wohngemeinschaft im Haus der Moderne. Drei Bemerkungen sollen ihrem In- und Zueinander ein wenig nachgehen.

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