Ukrainische Flüchtlingskinder in einer Wiener Schule - Was bei der Aufnahme von Ukrainern klappt, soll auch im Umgang mit Asylsuchenden aus anderen Ländern praktiziert werden, schlägt Migrationsforscher Gerald Knaus vor.<br />
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  - © picturedesk.com / Reuters / Lisa Leutner

Ukraine-Flüchtlinge: „Angst schüren gelingt nicht“

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In der europaweiten Solidarität mit der Ukraine sieht Migrationsforscher Gerald Knaus ein Lehrbeispiel für einen generell empathischen und pragmatischen Umgang mit Flüchtlingen.

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In der europaweiten Solidarität mit der Ukraine sieht Migrationsforscher Gerald Knaus ein Lehrbeispiel für einen generell empathischen und pragmatischen Umgang mit Flüchtlingen.

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Vom Vorwurf eines Asyl-Rassismus zwischen mehr oder weniger willkommenen Flüchtlingen hält Gerald Knaus nichts. Gleichzeitig darf Europa die syrischen Flüchtlinge in der Türkei nicht vergessen, fordert der Gründungsvorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI).

DIE FURCHE: Herr Knaus, wenn Sie mit dem Blick des Flucht- und Migrationsforschers auf den Krieg in der Ukraine und die dadurch ausgelöste Fluchtbewegung sowie die europaweite Solidarität mit diesen Flüchtlingen schauen, was lässt sich daraus lernen?

Gerald Knaus: Wir lernen, dass sich eine große Zahl an Flüchtlingen, nur mit der Zivilgesellschaft gemeinsam bewältigen lässt. Wir haben keine Massenlager für diese Millionen an Flüchtlingen, weil viele in Europa bereit sind, sogar ihre Häuser zu öffnen und Leute aufzunehmen. Von Polen über die Moldau, die Slowakei oder Österreich sind ganz viele Menschen bereit, auf eine Art zu helfen, die man nicht per Gesetz vorschreiben kann. Das kommt aus dem Inneren heraus, aus dem Humanismus, aus der Ethik, das Gefühl des Barmherzigen Samariters: Man sieht jemand am Straßenrand und tut etwas.

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DIE FURCHE: Das Tun beschränkt sich nicht nur auf die Bevölkerungen, sondern auch die Regierungen sind auf einmal bereit, unbürokratisch zu helfen – woher der Sinneswandel?

Knaus: Die Innenminister haben gesehen, dass viele Dinge, auf die sie bei anderen Asylsuchenden bestehen, wenig Sinn ergeben. Anstatt alle ins Asylsystem zu zwingen – was in dem Fall keinen Sinn ergibt, weil es zu viele sind und jeder sieht, wovor sie fliehen –, geben wir ihnen doch gleich Schutz. Und wenn wir wissen, die Bearbeitung des Asylantrags dauert eine Weile, dann geben wir ihnen doch so schnell wie möglich die Chance, sich zu integrieren und zu arbeiten. Das ist alles vernünftig, pragmatisch und gut für die Betroffenen und das Aufnahmeland. Ich hoffe, viele erkennen, wenn das bei den Ukrainern klappt, dass manches davon auch bei anderen Asylsuchenden sinnvoll wäre.

„Von Polen über die Moldau, die Slowakei oder Österreich sind ganz viele Menschen bereit, auf eine Art zu helfen, die man nicht per Gesetz vorschreiben kann.“

Migrationsforscher Gerald Knaus

DIE FURCHE: Im Unterschied zu 2015 werden Flüchtlinge aus der Ukraine in ganz Europa, auch in Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien willkommen geheißen – teilen Sie den Vorwurf, das sei eine Art Asyl-Rassismus?

Knaus: Nein, diese Einschätzung teile ich nicht. Es gibt Vorurteile, in jeder Gesellschaft. Doch diese sind nie in Stein gemeißelt. Österreich hat 2015 wie Deutschland auch viele Syrer aufgenommen. Und gegen kaum ein Volk hat die Generation unserer Großeltern so einen grauenhaften Krieg geführt wie gegen die Ukrainer. Die Ukraine zählte die meisten Opfer in Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion. Es ist ermutigend, dass heute Österreicher so offen gegenüber Ukrainern sind. Und Polen, die ebenfalls gegen Ukrainer kämpften. Die europäische Geschichte zeigt uns, dass Empathie unter Europäern nicht selbstverständlich ist. Hier scheint sie es zu sein, zum Glück.

DIE FURCHE: Warum?

Knaus: Weil sich heute viele mit Ukrainern identifizieren. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit Menschen mitzufühlen. Man kennt sie – jeder von uns fühlt sich betroffen, wenn Bekannten ein Unglück passiert. Oder man glaubt sie zu kennen, man fühlt, einer Gruppe geschieht Unrecht – und das ist im Falle der Ukrainer der Fall. Wir sehen Bilder aus Städten, die so aussehen wie bei uns. Kiew sieht aus wie Prag. Menschen führten ein Leben, wie wir es führen und werden auf einmal von einem brutalen Angriff überrascht. Und wehren sich mutig. Das bewegt viele, weil es uns so nahe ist.

DIE FURCHE: Im Unterschied zu anderen Flüchtlingsgruppen wird diese Nähe bei den Ukrainern auch medial gut vermittelt.

Knaus: Die Ukrainer haben in dieser Krise das große Glück, dass ihre Politiker sehr gut, sehr packend erklären können, was ihnen passiert. Ein Präsident Selenskyj, ein Bürgermeister Klitschko, die in perfektem Englisch oder Deutsch kommunizieren, verstärken diese Empathie. Das führt zu Sympathie mit den Betroffenen und aktivem Handeln. Es zeigt uns, dass es immer notwendig ist, auch bei anderen, die Schutz suchen, ihre Geschichten zu erzählen. Auch wenn Gambier in ein Dorf in Schwaben kommen, wo noch niemand zuvor einen Gambier gesehen hat und dort Asylanträge stellen, kann es zur Identifikation der Bevölkerung mit ihnen kommen. Wenn man Leute kennenlernt, wenn man ihre Geschichten hört. So sind Menschen.

DIE FURCHE: Geschichtenerzähler und Geschichtenversteher?

Knaus: An den Ukraine-Flüchtlingen sehen wir, wie wichtig die Macht von Geschichten ist. Nichts Erfundenes, keine Märchen, sondern Erzählungen über ihr Leid und was die Menschen bewegt, die zu uns kommen. Das findet über die Nachrichten statt, aber auch im Kontakt mit Menschen, die ihre Geschichten erzählen. Durch Geschichten und Identifikation mit Menschen wird aus Empathie Solidarität. Und aus dem biologischen Gefühl, wenn jemand leidet, ein Anpacken und konkrete Unterstützung. Das heißt, dass wir besser darin sein müssen, auch über andere Flüchtlinge Geschichten so zu erzählen, dass sie Mehrheiten bewegen.

DIE FURCHE: Welche Rolle spielt dabei die Religion – sind den Europäern orthodoxe Ukrainer näher als muslimische Syrer oder Afghanen?

Knaus: Katholische, evangelische und orthodoxe Christen sind sich in der europäischen Geschichte sehr oft gar nicht friedlich begegnet. Und im Fall der Ukraine reden wir von einem Land, das Jahrzehnte atheistische Diktatur in der Sowjetunion hinter sich hat. Ich glaube nicht, dass Religion die Grundlage der Identifikation ist. Ich glaube, es ist das Gefühl vieler, den Ukrainern geschieht unglaubliches Unrecht, sie werden angegriffen ohne jede Provokation, werden bombardiert, massakriert. Das ist ja der Albtraum eines jeden, dass eine derartige Katastrophe wie ein Zombie in die eigene Welt eindringt. Dazu kommt, dass diejenigen, die fliehen, vor allem Frauen und Kinder sind, die nichts lieber wollen, als sofort wieder zurückkehren. Selbst dem größten Populisten fällt es schwer, große Ängste gegen Kinder und Frauen zu schüren, die ihre kämpfenden Männer zurücklassen. Vor denen fürchtet man sich nicht.

„Wir müssen besser darin sein, auch über andere Flüchtlinge Geschichten so zu erzählen, dass sie Mehrheiten bewegen.“

Migrationsforscher Gerald Knaus

DIE FURCHE: Die Angst hängt ja meist nicht mit einzelnen Schicksalen, sondern mit den angeblichen Flüchtlingsmassen zusammen.

Knaus: Menschen tun sich schwer mit großen Zahlen. Wenn man sich die Zahlen ansieht, wie viele Menschen in den letzten zehn Jahren als Flüchtlinge eine Grenze überschritten und Schutz bekommen haben, dann kommt man drauf: Diese Zahl ist um so viel geringer, als fast jeder glaubt.

DIE FURCHE: Woher kommt dieses kollektive Missverständnis?

Knaus: Ganz einfach weil falsche Zahlen suggeriert werden, von Populisten, aber auch von internationalen Organisationen. Von 2017 bis 2020 ist die Zahl der Flüchtlinge weltweit laut UNHCR um 700.000 gestiegen. Das sind weniger als 200.000 im Jahr. Und dieses Wachstum geht zum Großteil auf die Kinder zurück, die bereits von Flüchtlingseltern im Ausland geboren werden. Es ist ja auch nicht erstaunlich, dass es so wenige Flüchtlinge auf der Welt gibt, weil die meisten Grenzen für Flüchtlinge mit Gewalt geschlossen werden. Die zwei Ausnahmen zu diesem geringen Wachstum von Flüchtlingen weltweit in den letzten vier Jahren waren Venezuela – da sind in den letzten Jahren Millionen in die Nachbarländer geflüchtet, weil die Grenzen offen waren – und jetzt die Ukraine, weil auch hier die Grenzen offen sind. Da sind wir beim Kern der Herausforderung: Flüchtlinge gibt es nur dort in großer Zahl, wo Staaten bereit sind, sieherein zu lassen.

DIE FURCHE: Die Türkei hat für rund vier Millionen syrische Flüchtlinge die Grenzen geöffnet. Sie sind der Architekt des dafür maßgeblichen EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens von 2016. Die türkische Opposition will diese Menschen jetzt zurückschicken und Präsident Erdogan stellt sich schützend vor sie. Der gleiche Erdogan, dem man ansonsten schlecht als Grundrechte-Bewahrer bezeichnen kann.

Knaus: Die Diskussion über Flüchtlinge in der Türkei zeigt uns, wie kompliziert die Welt ist. Wir haben eine Situation, wo ein Mann, der Parlamentarier ins Gefängnis brachte, der die Opposition unterdrückt, gleichzeitig der Mann war, der die größte Zahl von Flüchtlingen weltweit in sein Land gelassen hat und das immer verteidigt hat. Die, die jetzt sagen, dass das aufgrund seiner anderen Handlungen nicht anerkannt werden soll, die liegen genauso falsch wie die, die sagen: Erdogan hat Syrer aufgenommen, deswegen können wir seine anderen Menschenrechtsverletzungen nicht kritisieren. Beides ist falsch.

DIE FURCHE: Was ist richtig?

Knaus: Die Türkei hat Großartiges geleistet bei der Flüchtlingsaufnahme. Das hat Millionen Menschen, die aus Syrien fliehen mussten, eine Chance auf ein würdigeres und sichereres Leben als in den Flüchtlingslagern und Bomben Syriens gegeben. Jetzt erleben wir, dass die türkische Opposition im Wahlkampf verspricht, diese Menschen wieder zurückzuschicken, was nicht geht. Das heizt die Stimmung gegen Flüchtlinge im Land an. Der Hintergrund ist eine tiefe Wirtschaftskrise, hohe Inflation. In dieser Situation ist es auch für Europa wichtig zu erkennen, dass wir ein Interesse haben, der Türkei und vor allem den Gemeinden, wo diese Menschen leben, weiterhin finanziell zu helfen. Deswegen habe ich auch den finanziellen Aspekt der EU-Türkei-Erklärung immer verteidigt. Ab dem Tag dieser Erklärung sind die zuvor schon versprochenen sechs Milliarden Euro von der EU an die Türkei tatsächlich geflossen. Das war gut für die Flüchtlinge, gut für die Türkei und nicht zuletzt auch gut für die EU. Davon brauchen wir mehr, um auch dieser negativen Stimmung gegen Flüchtlinge in der Türkei etwas entgegenzuhalten.

Migrationsforscher Gerald Knaus - Knaus ist Gründungsvorsitzender der <a href="https://www.esiweb.org">Europäischen Stabilitätsinitiative</a> (ESI).<br />
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  - © Wolfgang Machreich

Migrationsforscher Gerald Knaus

Der Österreicher Gerald Knaus ist Gründungsvorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Nach seinem Studium in Oxford, Brüssel und Bologna lehrte er Wirtschaftswissenschaften in der Ukraine und arbeitete zehn Jahre lang für NGOs und internationale Organisationen in Bulgarien, Bosnien und dem Kosovo. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu den Themen Migration, Rechtsstaatlichkeit, sowie Korruption. 2020 veröffentlichte er den SPIEGEL-Bestseller „Welche Grenzen brauchen wir?“.

Der Österreicher Gerald Knaus ist Gründungsvorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Nach seinem Studium in Oxford, Brüssel und Bologna lehrte er Wirtschaftswissenschaften in der Ukraine und arbeitete zehn Jahre lang für NGOs und internationale Organisationen in Bulgarien, Bosnien und dem Kosovo. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu den Themen Migration, Rechtsstaatlichkeit, sowie Korruption. 2020 veröffentlichte er den SPIEGEL-Bestseller „Welche Grenzen brauchen wir?“.

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