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Kommen die „Russen“ nicht mehr?

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Die Geschichte des jüdischen Volkes hat an tragischer Größe nicht Vergleichbares. Verjagt und gejagt suchen seine Angehörigen bis in unsere Tage ihr Gelobtes Land. Tausende Juden kamen in den letzten Jahren aus der Sowjetunion nach Israel. Ihre Immigration war eine der Hauptgründe für die Verstimmung zwischen Arabern und Sowjets — und ihre Störung eines der Hauptziele der palästinensischen Terrororganisationen. Die jüdischen Auswanderer kamen aus der Sowjetunion zuerst nach Österreich. Österreich bedeutete für Hunderttausende das erste Tor zur Freiheit — das Lager Schönau die erste Unterkunft auf ihrem Weg in eine freie Zukunft. In Hinkunft soll das nun anders sein: Österreichs Bundesregierung folgte dem Druck arabischer Botschaften und der Erpressung von palästinensischen Desperados. Wie wird die Sowjetunion reagieren? Was bedeutet der Regierungsbeschluß in Wien für das Schicksal noch tausender Auswahderungswil liger? Unser Israel-Korrespondent schildert in seiner Reportage die Probleme jüdischer Einwanderer — und sprach mit dem israelischen Einwanderungsminister Nathan Peled.

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Die Geschichte des jüdischen Volkes hat an tragischer Größe nicht Vergleichbares. Verjagt und gejagt suchen seine Angehörigen bis in unsere Tage ihr Gelobtes Land. Tausende Juden kamen in den letzten Jahren aus der Sowjetunion nach Israel. Ihre Immigration war eine der Hauptgründe für die Verstimmung zwischen Arabern und Sowjets — und ihre Störung eines der Hauptziele der palästinensischen Terrororganisationen. Die jüdischen Auswanderer kamen aus der Sowjetunion zuerst nach Österreich. Österreich bedeutete für Hunderttausende das erste Tor zur Freiheit — das Lager Schönau die erste Unterkunft auf ihrem Weg in eine freie Zukunft. In Hinkunft soll das nun anders sein: Österreichs Bundesregierung folgte dem Druck arabischer Botschaften und der Erpressung von palästinensischen Desperados. Wie wird die Sowjetunion reagieren? Was bedeutet der Regierungsbeschluß in Wien für das Schicksal noch tausender Auswahderungswil liger? Unser Israel-Korrespondent schildert in seiner Reportage die Probleme jüdischer Einwanderer — und sprach mit dem israelischen Einwanderungsminister Nathan Peled.

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Es ist 4 Uhr früh. Der Flughafen von Lod ist taghell erleuchtet. Auf der Besucherplattform stehen einige Hundert Wartende, die die Arme kreuzweise gegeneinander schlagen, um sich gegen die morgendliche Kälte zu schützen. Aus der Ferne blinken die Lichter der aus Wien kommenden Boing 747 El-Al-Ma-schine auf. Sie hat 140 Neueinwanderer aus der Sowjetunion an Bord.

Aus den Fenstern des Flugwagenbusses blicken erregte und verstörte Gesichter. Die Aufregung auf der Besucherplattform steigert sich von Minute zu Minute. Sobald die Passagiere aussteigen, hört man Aufschreie aus Dutzenden von Kehlen in Jiddisch, Russisch und Grusinisch. Namen von Personen werden gerufen. Die wartenden Angehörigen — oft vor Erschütterung in Tränen ausbrechend — gebärden sich nun wild und hektisch. Ähnliche Reaktionen zeigen die Ankommenden. Im Überschwang der Gefühle umarmen viele spontan die Beamten des Einwanderungsministeriums. Einige Kinder rennen zu den jüdischen Polizisten, um die Uniform zu betasten. Ein alter Herr kniet nieder auf den Boden, um die Erde seiner alt-neuen Heimat zu küssen. Ein anderer murmelt, während er die Treppe zum Warteraum emporsteigt, unaufhörlich Psalmen-vor sich- -bin.'

Die Neuankömmlinge — unter ihnen eine Reihe junger Paare mit

Kleinkindern, ältere Ehepaare und Alleinstehende, nehmen im Warteraum des Einwanderungsbüros im Flughafen Platz.

GRISCHA FEIGELSON ist einer der ersten, die das Büro betreten. Er erzählt dem seine russischen Papiere überprüfenden Grenzpolizisten, daß er zwölf Jahre auf seine Ausreiseerlaubnis warten mußte. Seine beiden Söhne, der eine Bau-, der andere Maschineningenieur, mußten sieben Jahre arbeiten, bis sie die vom Staat geliehenen Studiengelder „abgedient“ hatten und ausreisen durften. Unermüdlich hatte sich Grischa Woche für Woche in das russische Innenministerium begeben, um seine Auswanderungsgenehmigung zu erhalten. Von den dortigen Beamten wurde er als „Verräter“ beschimpft. Doch dies machte ihm nichts aus. Er ist von Beruf Fleischhauer. Sein Fach war auch in Riga sehr gesucht, so daß man ihn nicht einmal von der Arbeit fortließ. Vor einer Woche hat er vom russischen Innenministerium eine Vorladung erhalten. Drei Tage später saß die ganze Familie im Zug nach Moskau und weitere drei Tage später kamen sie mit dem Moskau-Wien-Expreß in Wien an.

Ein anderer Beamter füllte Gri-schas Einbürgerungsformular auf seinen Namen aus (laut dem Rückkehrergesetz wird jeder jüdische Neueinwanderer bei seiner Ankunft automatisch israelischer Bürger). Für die ersten Ausgaben in der neuen Heimat erhielt er von einem dritten Beamten 50 bis 100 israelische Pfund. Je nach Größe der Familie. Herr Fei-gelson unterschrieb eine Verpflichtungserklärung, das erhaltene Geld zurückzuerstatten, sobald er die Möglichkeit dazu habe.

Aber es ist nicht üblich, diese Verpflichtung durch die Behörden einzutreiben. Nun kam Herr Feigelson zum Leiter des Einwanderungsbüros vom Flughafen, um eine neue Wohnung für sich und seine Familie zu erhalten. Der zirka 55jährige, schmächtig aussehende Neubürger holte einen Brief seines in Tel Aviv lebenden Bruders hervor, in dem dieser berichtet, bereits einen Arbeitsplatz für ihn in Tel Aviv zu haben. Doch der Beamte des Einwanderungsbüros wollte Feigelson nach Naharya schicken, denn dort befindet sich eine der größten Wurstfabriken des Landes. Auch seine beiden Söhne können im Industriegebiet von Naharya Arbeit finden. Atterdings isi Naharya- nur eine kleine, von Tel Aviv zirka 150 Kilometer entfernte Stadt. Feigelson betrachtet alle Umstehenden — denn seiner Meinung nach darf man Regierungsbeamten nicht glauben. Nach zirka einer halben Stunde Überredungskunst hatten es die Beamten so weit gebracht, daß sich Feigel-son mit der Wohnung in Naharya einverstanden erklärte und ein anderer Neuankömmling an die Reihe kam.

Es war der 59jährige JAKOB GERZENSTEIN aus Szitomir (Ukraine). Er ist Krankenpfleger und seine Frau Hebamme. Im Gegensatz zu den Juden aus dem Baltikum, die zum größten Teil gut gekleidet sind, machen die Juden der Ukraine und Rußlands einen ärmlicheren Eindruck. Man will ihn nach Nazareth einweisen. Auch er will nach Tel Aviv. In einer größeren Stadt meint er, werden Krankenpfleger und Hebammen eher benötigt. Nach geduldigem Zureden willigt er ein. Wer weiß, meint er, vielleicht wird er gerade in Nazareth besonders gebraucht?

WLADIMIR JERMINSKI und seine Frau DINA sind beide Ingenieure aus Kiew. Der 27jährige Wladimir hat sich auf das Fach Betriebsorganisation spezialisiert, seine vier-undzwanzigjährige Frau auf anorganische Chemie. Sie erhielten die Ausreiseerlaubnis der russischen Behörden innerhalb einer Woche. Warum dies so schnell ging, wissen sie selbst nicht. Viele Freunde von ihnen warteten bereits jahrelang vergebens. Die beiden jungen Leute werden fürs erste in ein Eingliederungszentrum geschickt. Es handelt sich um ein Internat, in dem das Paar kostenlos ein möbliertes Zimmer und Verpflegung erhält und in einem Spezialkurs für Akademiker, drei Monate lang intensiv (acht Stunden am Tag) die hebräische Sprache erlernt. Während dieser Zeit bemüht sich das Arbeitsamt, beiden eine passende Arbeit zu verschaffen. Beide werden in der Nähe des zukünftigen neuen Arbeitsplatzes eine 3-Zimmer-Wohnung erhalten.

Auch SHULAMIT MAKARA-NOWA möchte gerne diesen 5-Mona-te-Intensivhebräischkurs besuchen. Sie behauptet, akademische Ausbildung zu besitzen. Doch laut ihren Dokumenten ist sie Textiltechni-kerin mit einer Fachingenieurausbildung. Sie ist geschieden, hat eine Tochter von fünf Jahren und will fürs erste mit ihrem Kind in solch einem Eingliederun'gszentrum unterkommen. Man erklärt ihr, daß diese Intensivkurse in erster Linie für Akademiker, Buchhalter und Lehrer sind, doch Techniker müßten sich mit

Abendkursen nach der Arbeit die Sprache aneignen.

Herr J. B. ist 58 Jahre alt. Er hat schlohweißes Haar und macKt den Eindruck eines 75jährigen. Jetzt kam er aus Riga. Doch bis vor einem Jahr war er noch in Sibirien, wo er zwölf Jahre verbrachte. Er wurde dorthin wegen „zionistischer Umtriebe“ in ein Arbeitslager verbannt. Seine Kinder mußten in Riga bleiben. Sein Sohn, ein Elektroingenieur, arbeitet in einem Betrieb, dessen Produktion unter Geheimhaltung steht. Sein Auswanderungsgesuch wurde endgültig abgelehnt. J. B. ist nur mit seiner Frau gekommen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wollte er nach Palästina auswandern, doch kam es erst jetzt dazu. Er ist Buchhalter von Beruf und hofft, hier eine Anstellung zu finden. Hebräisch kann er noch von seiner Jugend her; er ging damals in ein hebräisches Gymnasium. Die Angst sitzt ihm noch in allen Gliedern. Man merkt es an seiner Unsicherheit. Er fängt bei der leichtesten Erregung zu zittern an. Seine Frau redet auf Jiddisch beruhigend auf ihn ein. Ihm ist es egal, wo er hingeschickt wird, er ist glücklich, in Israel angelangt zu sein. Nach jahrelangem Warten erreichte er die Freiheit.

Zirka zwei- bis dreimal in der Woche kamen bisher Transporte russischer Juden in Israel an. Im Jahre 1971 kamen zirka 15.000 Juden aus der Sowjetunion. Im Jahre 1972 waren es mehr als 30.000.

Es ist sehr schwierig, eine Logik in der russischen Auswanderungspolitik zu finden. Viele Auswanderer warten zehn bis fünfzehn Jahre auf ihre Genehmigung, andere erhalten sie innerhalb von Tagen. Keiner kann es sich erklären, warum die Erlaubnis dem einen erteilt und dem anderen versagt wird.

Für sie alle beginnt in Israel ein völlig neues Leben. Sie erhalten als erstes eine Wohnung mit einer behelfsmäßigen Einrichtung, erlernen die hebräische Sprache, bekommen einen Arbeitsplatz zugewiesen; aber sie müssen selbst dafür sorgen, sich bei ihrer Arbeit zu bewähren und, was noch wichtiger ist, sich den neuen Lebensbedingungen anpassen. Vieles färc Ihnen ' ungewohnt.' Im kommunistischen Rußland sorgt der Staat für alles. Hier ist jeder zuerst auf sich selbst angewiesen.

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