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Auf dem Weg zur Stadt

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Wenn ich von meinem Bergbauernhof in Reith im Alpbachtal nach Innsbruck fahre, um dort meinen Verpflichtungen als Bauernvertreter nachzukommen, dann habe ich auf dieser eine gute halbe Stunde dauernden Fahrt genügend Zeit, über vieles nachzudenken, was uns in der Agrar- und Regionalpolitik jahraus, jahrein so beschäftigt. Die Landschaft, durch die ich fahre, bietet verschiedene Anregungen zu morgendlichen Gedanken.

Ich beginne meine Fahrt auf einem Güterweg. Im Gegensatz zu vielen anderen Gemeinden hat meine Heimatgemeinde schon vor vielen Jahren die Güterwege in das Gemeindewegnetz aufgenommen. Damit stehen den Einheimischen wie unseren zahlreichen Gästen Wege offen, die sie in die Bergregionen, in die Almen und Wälder führen. Die Bauern sind von den oft gewaltigen Lasten der Güterweegerhaltung befreit. Es gehört zu meinen politischen Enttäuschungen, daß es uns nicht gelingt, alle Gemeinden zur Übernahme der Wegeerhaltung zu überreden. Wir

„Auf vielen Höfen ist es heute untertags noch einsamer als in mancher Stadtwohnung.“ werden wieder einmal, wie vor zehn Jahren, eine Zählung durchführen müssen, damit wir schwarz auf weiß belegen können, wer diese Wege in Wahrheit benützt.

Unser Altester arbeitet, wenn ich aufbreche, noch im Stall; er wird anschließend in den Wald gehen und bis zum Mittagessen nicht zurückkommen. Daß er bei dieser gefährlichen Arbeit oft stundenlang alleine ist, bedrückt uns - aber was soll er tun? Soll er das bei der Waldarbeit ohne Zweifel zu verdienende Arbeitseinkommen mit einem anderen teilen?

Unser Zweitgeborener fährt mit mir bis ins Dorf hinunter, wo er den Schulbus in den Zentralort besteigt; er geht in eine Höhere Schule.

Unsere Tochter hat „weggeheiratet“. Das heißt: Meine Frau ist nun für viele Stunden ganz allein in einem großen Bauernhaus. Wie ein Hohn mag ihr da in den Ohren klingen, was Agrarromantiker vom Mehrgenerationen-Haushalt am Bauernhof daherreden. Auf vielen Höfen ist es heute untertags noch einsamer als in mancher Stadtwohnung. Bei Raumordnern wie Naturschützern stoße ich auf taube Ohren, wenn ich, diese unsere persönliche und die Situation vieler Einzelhöfe bedenkend, die Frage einer Mindestsiedlungsdichte aufwerfe. Da ist man dann schnell mit dem häßlichen Wort „Zersiedelung“ zur Stelle.

Auf dem Weg durch unser Dorf, in dem ich durch zwölf Jahre Bürgermeister war, kommen mir Gedanken über den Fremdenverkehr. Ich weiß auch, daß er vieles an Gutem zerstört hat, daß für Besinnung und Einkehr bestenfalls noch im November ein paar Wochen Zeit bleibt, wenn da nicht gerade umgebaut wird. Aber insgesamt ist die Bilanz doch sehr positiv. Die Alternative wäre in unserem rauhen und kargen Gebirgsland

„Die Milchkontingentierung 'kann nur zu einer Verschärfung auf dem Zuchtviehsektor führen.“ ja nicht die heile alte Bauernwelt, sondern Abwanderung oder nackte Armut. Ob das all jene bedenken, die für einen reißerischen Film zu diesem Thema mehr ausbezahlt bekommen als ein Bergbauer pro Jahr verdienen kann?

Ich tauche in den Nebel einer Industriegemeinde im Inntal ein - und weiß nun wieder, was die gute Luft meines Berghofes wert ist. Auf der

Autobahn Richtung Innsbruck, wenn die Spikes, die ich wegen der steilen Auffahrt nach Hause brauche, so richtig zu singen beginnen, denke ich an die vielen Mitbürger, die sich ihr Haus vor Jahren an einem ruhigen Fleck erbaut haben, und die nun Tag und Nacht einer Lärmbelästigung von krankmachenden Ausmaßen ausgesetzt sind. Wir wären in Tirol nie darum herumgekommen, die Nord-Süd-Achse Europas anständig auszubauen. Aber daß wir uns damit eine solche Lärmbombe eingehandelt haben, die viele tausende Tiroler zwingt, bei geschlossenen Fenstern zu schlafen, die vielen Mitbürgern alle Freude an ihren Häuschen genommen hat, das haben wir alle nicht geahnt.

Auf der Autobahn überhole ich zahlreiche Fernlastzüge mit der Aufschrift „Trasporto latte“. Es sollen täglich über hundert solche Fernlaster sein, die Milch aus Bayern nach Italien bringen. Die Frage, warum es der Eisenbahn nicht gelingt, diesen Schwerverkehr aufzunehmen, kann mir niemand beantworten. Viel mehr bedenke ich in diesem Zusammenhang, wie sehr unsere Landwirtschaft doch der Prügelknabe der europäischen Teileinigung geworden ist. Wir könnten selbstverständlich Milch derselben Qualität und in derselben Menge nach Italien liefern, und hätten damit nicht nur unser Milchproblem gelöst. Durch die massenweise Milchlieferung nach Italien wird dort der Anreiz, Milchkühe zu halten, geringer, und das wirkt sich in den Zuchtviehpreisen auch in Tirol aus. i

In Rotholz dürfte heute wieder Versteigerung sein. Der Parkplatz vor der Auktionshalle ist überfüllt. Bauern, die ein Rind angemeldet haben, und hoffentlich viele Viehhändler parken dort. Leider können diese Auktionen, bei denen im Jahr rund 10.000 Rinder umgesetzt werden, nicht ohne Stützungen ablaufen. Mit Hilfe dieser Mittel, in die sich Bund

„Es haben auch andere Gruppen mit dem Strukturwandel fertig zu werden, nicht nur wir Bauern.“ und Land teilen, war es bisher mög-'lich, trotz des Verfalles der Lira den Viehabsatz noch aufrechtzuerhalten. Aber er bleibt unser ständiges Sorgenkind; nach den Werten der Viehzählung vom letzten Dezember werden die Sorgen noch wachsen. Die Milchkontingentierung kann nur zu einer Verschärfung auf dem Zuchtviehsektor führen.

In den kommenden Wochen feiert die Schule in Rotholz ihr hundertjähriges Bestehen. Die Landwirtschaftsschulen quellen zur Zeit über, auch die Mittelschulen und die Universität für Bodenkultur. Hoffentlich können wir all den jungen Leuten, die mit so viel Eifer bei der Sache sind, im insgesamt doch schrumpfenden Agrar-sektor einmal eine ordentliche Beschäftigung geben. Unlängst hat ein Wirtschaftswissenschaftler bei einem Vortrag in Rotholz gesagt, die Uberfüllung der Schulen, die rückläufige Abwanderung aus der Landwirtschaft sei die Ursache künftiger noch höherer Agrarüberschüsse. Möge er unrecht haben...

Von den Bergen um Schwaz grüßen riesige Abraumhalden. Hier hat es, vor ein paar Jahrhunderten, bis zu 20.000 Bergarbeiter gegeben. Heute gibt es keinen mehr. Es haben also auch andere Berufsgruppen, in alten Zeiten so wie heute, mit dem Strukturwandel fertig zu werden, nicht nur wir Bauern. Auch daß der Haller Bergbau eines Tages eingestellt wird, hätte noch vor 20 Jahren kaum jemand gedacht.

Der Verkehr wird, je näher man nach Innsbruck kommt, immer ärger; es ist nun besser, sich auf die

Straße zu konzentrieren. Ein Blick hinüber ins olympische Dorf, das in seiner Häßlichkeit seinesgleichen suchen muß. Von den sozialen Problemen, die solche Menschenansammlungen auf engstem Raum aufwerfen, haben wir Bauern kaum eine Ahnung. Auch wenn in unseren

„Ein Blick hinüber ins olympische Dorf, das in seiner Häßlichkeit seinesgleichen suchen muß.“

Dörfern beileibe nicht alles in Ordnung ist.

Ich betrete mein Büro. Unter der Dienstpost liegt ein Schreiben der „Furche“, sie möchte für ihre Tirolsonderseiten einen Artikel über die Tiroler Landwirtschaft. Und ich beschließe, meine Gedanken während der morgendlichen Fahrt von meinem Bergbauernhof in die Landeshauptstadt zu Papier zu bringen.

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