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Die Heimstattennot Europas

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Eine Analyse der Unordnung und Zerstörung, die der zweite Weltkrieg zurückgelassen hat, läßt die Riesenmaße der nun der Menschheit gestellten Aufgaben erkenn-nen. Sie zu bewältigen, wird in manchen Bereichen der Arbeit ein Mehrfaches der Kriegsdauer beanspruchen. Noch in hundert Jahren werden viele Narben zu sehen sein. Nicht zu reden von den unschätzbaren Werten, die verlorengegangen und nie wieder zu finden sind. Von einer „unvorstellbar großen wirtschaftlichen, politischen und moralischen Zerrüttung, die in fast allen Ländern des Abendlands zu konstatieren ist“ und das Abendland vor wahrhaft gigantische Wiederaufbaufragen stellt, spricht Louis Emrich, dieser weitschauende Schweizer, in seinem eben im Züricher „Europa-Verlag“ erschienenen Buche „Das europäische Chaos und seine Uberwindun g“. Ein erschütterndes Kapitel seiner Untersuchung betrifft die geschaffene Wohnungsnot. Man muß sich gewöhnen, in andern Kategorien zu denken, als man bisher gewöhnt war. wenn man von Wohnungs- und städtischer Wohnbaupolitik ~orach, so groß und schwierig bisher schon das Thema war.

Louis Emrich berechnet, daß die 572 Millionen Menschen, die am 1. August 1939 Europa zählte, 196 Millionen Wohnungen hatten, wobei nach dem Durchschnitt auf 100.000 Einwohner 17.000 Wohnhäuser, auf ein Wohnhaus 3.7 Wohnungen kamen, von denen 82 Prozent Ein- bis Dreizimmerwohnungen waren. Nach einer Statistik, die das „Annuaire statistique du Travail“ veröffentlicht, fehlten am 8. Mai 1945 in ganz Europa 2 9.9 Millionen Wohnräume, hievon 1.1 Millionen durch das Unterbleiben normaler Bautätigkeit während der Kriegsjahre, und 28.8 Millionen, die den Kriegszerstörungen zum Opfer gefallen sind, was bedeuten würde, daß mehr als ein Sechstel aller Wohnungen in Europa verlorengegangen und etwa 150 Millionen Menschen Europas ohne eigenes Heim sind; fast ein Drittel der europäischen Bevölkerung hätte also die eigene Wohnung verloren. Da diese Verluste sich in den kriegsversehrten Ländern auf bestimmte Gebiete konzentrieren, ist es klar, daß dort sich Wohnungszustände ergeben, wie man sie bisher seit den Zeiten der Londoner Slums nicht gekannt hat.

In England wurden vom September 1939 bis März 1945 rund 6.8 Millionen Wohnungen vollständig zerstört; daneben sind entsprechend große Ausfälle an gewerblichen und industriellen Räumen eingetreten. England besaß anfangs des Krieges nach amtlichen Aufstellungen 13 Millionen Häuser, von denen 4.5 Millionen irgendwie durch Kriegseinwirkungen beschädigt wurden; von diesen verfielen 202.000 Häuser völliger Vernichtung; allein durch die deutschen Flügelbomben wurden bis 1945 21.000 Häuser mit insgesamt rund 80.000 Einzelwohnungen umgelegt und zehnmal soviel mit 2.5 Millionen Wohnungen beschädigt.

Für Rußland verzeichnet Louis Emrich einen Verlust von 14.5 Millionen ganz vernichteter Wohnungen, es seien ja zahlreiche Städte bis zu 94 Prozent in Trümmer gelegt worden.

Auf noch höher werden die Wohnungsverluste Deutschlands geschätzt. Das Deutsche Reich zählte zufolge amtlicher Zählung am 17. Mai 1939 18.1 Millionen Wohnungen, von denen fast die Hälfte Klein- und mittlere Wohnungen waren; man stellte damals schon einen Abgang von 1.8 Millionen Wohnungen fest, der zur Herstellung normaler Wohnverhältnisse hätte abgedeckt werden müssen. Der pompöse nationalsozialistische Fünfjahrplan versprach für die Zeit nach dem Kriege den Neubau von 15 Millionen Zwei- und Dreizimmerwohnungen; an Stelle der Ausführung ist der Ruin zahlloser menschlicher Siedlungen und großer Städte getreten. Emrich beruft sich auf amtliche deutsche Berichte, wenn er für Hamburg 79 Prozent der Bauten als zerstört bezeichnet; über 600.000 Einzelwohnungen seien vernichtet; ähnliche Ziffern werden für Essen vermerkt. — Berlin verfügte nach den Angaben seines städtischen Amtes für Statistik 1939 über rund 470.000 Wohnhäuser und Wohnbaracken, hatte aber schon damals 650.000 Wohnungssuchende. Und diese Stadt verlor in ihrem Zentrum 65 Prozent, in den Außendistrikten bis zu 33 Prozent ihrer Bauten, insgesamt bis Kriegsende 195.000 Wohnhäuser, mit über 650.000 Einzelwohnungen. Viel schlimmer tcht es um das einst so schöne Köln, die zuvor drittgrößte Stadt Deutschlands, die von ihren 80.000 Wohngebäuden 65.000 eingebüßt hat. Es gibt jedoch rheinische Städte, wie Koblenz, in denen die Ausfälle nodi größer sind.

Die Ziffern, die naturgemäß nur einen globalen Wert beanspruchen, gewähren nur Andeutungen, verraten nicht die ganze Größe der Probleme, die zu bewältigen sind. Aber was Mut und Entschlossenheit vermögen, davon geben die Wiederherstellungsarbeiten in Berlin ein Zeugnis. Nach Angaben, die „Der Weg“, Zürich, veröffentlicht, waren von den 225 000 Gebäuden Inner-Berlins nadi dem Waffenstillstand noch 147.927 vorhanden,von denen 13.5 Prozent nicht mehr benutzbar waren, 12 Prozent nicht mehr benutzbar waren, 12 Prozent schwere Schäden und 9 Prozent leichte Schäden erlitten hatten. Im April 1946 waren aber doch schon 217.423 Wohnungen repariert und konnten 325.000 Personen Aufnahme gewähren. Mit welchen Schwierigkeiten die Wiederherstellungsarbeiten verknüpft waren, läßt sich bei dem Mangel an Material und Werkzeug unschwer begreifen. Man hat aus den Trümmerhaufen 100 Millionen Ziegelsteine gebrauchsfertig gemacht. Zuerst waren es die Bewohner, die zur Selbsthilfe schritten, jetzt ist die Sammlung von Baumaterial aus den Trümmern 250 Unternehmungen für öffentliche Arbeiten anvertraut, deren Arbeiterschaft zu zwei Dritteln aus Frauen besteht. Für diese Arbeiten wurden in den zerstörten Bezirken 164 Kilometer Bahngeleise gelegt, auf denen 55 Lokomotiven und 2400 Kippwagen verkehren. An 175 Sammelplätzen wurden die Trümmer, nach Material geordnet, gestapelt. 600.000 Kubikmeter Trümmer warten aber noch auf ihre endgültige Bestimmung.

Von den 166 Hauptbrücken Berlins sind in der Schlacht um Berlin 122 in die Luft gesprengt worden. Davon sind 55 wieder hergestellt, zum Teil behelfsmäßig, so daß sie den Verkehr nur in geringem Umfang bewältigen können.

Das Verkehrswesen Berlins war zunächst so gut wie ganz zerstört. 95 Prozent des Schienennetzes der Berliner Straßenbahnen, 77 Prozent der Straßenbahnwagen imd 98 Prozent der Autobusse waren nicht mehr verwendbar. Zur Wiederherstellung der Untergrundbahn mußte eine Million Kubikmeter Wasser ausgepumpt und 50 Kilometer Kanalisation mußten wieder in Gang gesetzt werden

In allen mit dem Wiederaufbau zerstörten Wohnraumes befaßten Staaten besteht Einverständnis der Sachverständigen darüber, daß das Ziel, große Bevölkerungsmassen rasch wieder zu menschenwürdigen Wohnverhältnissen zurückzuführen, zunächst mit Provisorien, aber auch überhaupt mit der Anwendung neuer Bauweisen erreicht werden muß. Das Holzhaus, seit langem von den städtischen Bauordnungen gemieden und verboten, kommt wieder zu Ehren, systematisch verwendet in den Siedlungsräumen der städtischen Randgebiete. Finnland ist, seit es aus dem Kriege ausschied, mit der fabriksmäßigen Herstellung von rasch abstellbaren Einfamilien-Holzhäusern am laufenden Band vorangegangen, und soll seitdem sdion mehr als 600.000 solcher Holzhäuser nadi Rußland, Polen und England geliefert haben. Audi unsere alpen-ländische Holzindustrie in Tirol, Salzburg und Steiermark ist in diese Erzeugung bereits eingetreten. Frankreich verlangt, wie Louis Emrich verzeichnet, nach mindestens 600.000 Einfamilien-Holzhäusern. Italien in einem Sofortprogramm nach 300.000; Belgien und Rumänien melden als Bedarf je 100.000, Holland 150.000, Polen 1.2 Millionen, und Rußland sogar 2.5 Millionen Holzhäuser an. Österreich wird sich derselben Wohnungsbeschaffungsmethode nicht entziehen können. Der Auslandsbedarf wird unsere Holzwirtschaft vor Lieferungsansprüche stellen, so groß, daß sie für den österreichisdien Waldbestand bedrohlich werden können. Die Notwendigkeit, durch Herstellung von Exportgut die erforderlichen Einkaufsmöglichkeiten im Ausland unserer österreidiischen Wirtschaft zu erschließen, andererseits das Gebot, einen Raubbau an unserem kostbaren Gut, dem heimischen Wald, zu verhindern, werden unsere Wirtschaftspolitik vor verantwortungsvolle harte Entscheidungen steilen.

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