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Jeder Stadt ihre Disneyworld

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Die Stadt von morgen: Neben internationalen Finanzzentren werden auch „Biodörfer" und streng bewachte Pensionistensiedlungen existieren.

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Die Stadt von morgen: Neben internationalen Finanzzentren werden auch „Biodörfer" und streng bewachte Pensionistensiedlungen existieren.

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Einst waren die Städte Kreuzungspunkte von Menschen-, Waren-, Geld- und Informationsströmen. Das wirtschaftliche, politische und soziale Leben konnte sich nur an einem Ort völlig entfalten, wo die handelnden Personen direkt miteinander in Kontakt treten konnten. Dazu war räumliche Nähe unabdinglich, da der Transport von Gütern, Botschaften und Men»chen mit einem zu großen Zeitaufwand verknüpft war. Nur dichte Städte konnten diese räumliche Nähe gewährleisten. Zu Beginn der industriellen Revolution jedoch ändert sich das.

Die ersten „Wunden" (Florian Rötzer) habe die Eisenbahn den alten, scharf von ihrer Umwelt abgegrenzten Städten geschlagen. Plötzlich konnten große Menschen-, Waren-, und Rohstoffmengen in kurzer Zeit über weite Strecken transportiert werden. Weit von der Stadt entfernte Orte rückten durch einen Eisenbahnanschluß näher an die Stadt heran. Das Land wurde an die Stadt angeschlossen, beziehungsweise die Stadt breitete sich aufs Land aus. Für Rötzer stellte dies die Geburt der Peripherie dar. Mittlerweile ist durch das Automobil die räumliche Nähe fast bedeutungslos geworden. Damit entfällt die Notwendigkeit eines Zentrums, das durch seine Enge überdies dem Individual-verkehr kaum gerecht wird. Staus stehen in jenen Teilen der Innenstädte, die noch keine Fußgängerzonen sind, auf der Tagesordnung.

Der Telegraph und in der Folge das Telefon stellten eine gewaltige Vereinfachung der Kommunikation dar. Menschen mußten sich nicht mehr Auge in Auge gegenüberstehen, um miteinander sprechen zu können. Damit verloren die Städte ihre Funktion als Kommunikationszentren. Computer und Internet machen es heutzutage nicht einmal mehr nötig, sich in ein Büro zu begeben. Die Arbeit kann von zu Hause aus erledigt werden. „Tele-working" heißt das Zauberwort. Auch macht in den Vereinigten Staaten der Anteil des Teleshopping am Gesamtkonsum schon ein Prozent aus.

Wie wird die Zukunft aussehen? Die einen prophezeihen eine Verlagerung des sozialen Lebens vom physikalischen Raum in den virtuellen Raum, also in eine nur in Computernetzwerken existierende Welt. Schon 1964 prägte der amerikanische Medientheoretiker Marshall McLuhan, seiner Zeit weit voraus, den Begriff des „global village", das in den Netzwerken der neuen Kommunikationstechnologien entstehen würde. Auch McLuhan glaubte, daß mit der Zeit der Unterschied zwischen Stadt und Land, zwischen Zentrum und Peripherie endgültig verschwinden würde.

„Über das Internet wird mehr geschrieben, als es benutzt wird", zeigt sich Dietmar Steiner skeptisch. Er glaubt nicht an ein Verschwinden der Städte. „Ein großes Unternehmen wird man sicher nicht von der Wüste Kalahari aus leiten können", sagt er. Steiner hängt der Theorie der „global players" an. Demnach werden sich die weltweiten Geld-, Waren-, und Informationsströme in wenigen Weltmetropolen konzentrieren, die dann die Zentren unseres Planeten sind: Dazu zählt Steiner New York, Tokio und London.

Für die Zukunft der Stadtzentren jener Großstädte, die nicht zu den „global players" gehören, hat der Leiter des Architektur Zenrums Wien ein klares Bild: „In den Zentren kommt die Disneysierung, die totale Durch-kommerzialisierung." Nur so können die Innenstädte gegen ihre größten Konkurrenten, die Einkaufszentren in der Peripherie, bestehen (siehe Seite 15). Durch staatliche und kommunale Planung würden die Funktionen des Konsums, der Freizeit und der Unterhaltung in den historischen Stadtkernen erhalten beziehungsweise künstlich wiederhergestellt - nicht aber die Funktion des Wohnens. Das Vorbild für diese Bemühungen stelle Disneyworld dar, wo für die zumeist amerikanischen Besucher jene Urbanität perfekt inszeniert werde, die sie in ihren echten Städten nicht vorfänden. Steiner: „Walt Disney ist der wichtigste Städtebauer des ausgehenden 20. Jahrhunderts." Der Leiter des Architektur Zentrums Wien räumt ein, daß es im Städtebau keine Utopien mit universellem Anspruch mehr gebe. Nur mehr einzelne gesellschaftliche Gruppen könnten ihre „Teilutopien" verwirklichen: Biodörfer etwa oder streng bewachte Pensionistensiedlungen in Amerika, die ihren Bewohnern eine komplette Infrastruktur bieten - und vor allem Sicherheit vor Kriminalität. Es habe keinen Sinn, so Steiner, dazu eine positive oder negative Meinung zu haben. „Das ist schlicht eine Tatsache.' Es gibt einfach langfristige Veränderungen im gesellschaftlichen Leben, die kann man nur diktatorisch verändern. Lieber eine Auffächerung in subkulturelle Gruppen, als eine von oben verordnete Einheitlichkeit."

Florian Rötzer warnt vor der Gefahr einer nostalgisch-naiven Kritik an den beschriebenen Entwicklungen der Stadt. Denn der Zustand der Stadt und der Architektur sei eine Konsequenz von Pluralismus und Individualismus, den Grundlagen der heutigen Gesellschaft. Rötzer: „Der Ruf nach Zentralität und die Kritik am Individualismus lassen sich keineswegs auf die Ebene der Architektur und Urbanität reduzieren; sie entstammen dem Repertoire einer Kulturkritik, deren Nähe zu den extremen, totalitären und fundamentalistischen Ideologien dieses Jahrhunderts auf der Hand liegt."

Der Autor ist freier

Mitarbeiter der Furche.

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