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Mensch und Partei in der großen Stadt

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Die Weltgeschichte war fast immer die Geschichte des Stadtmenschen, dessen politisches Verhalten aus diesem Grund für die Politik seines Landes auf lange Sicht bestimmend war. Daher war und ist es den Parteien aufgegeben, sich besonders nachdrücklich in den großen Städten auf die Eigenart des Städters und des Städtischen hin auszurichten.

Vom Standpunkt der Politischen Soziologie muß die Stadt — die große Stadt, und nur von ihr soll die Rede sein — als eine Anhäufung von Menschen auf einem engen Raum gesehen werden, als Ansammlung von Masse, die in der Vertikale siedelt. Durch die arteigene Form des Siedeins in der Stadt fehlt aber das bestimmende Element der Nachbarschaft, die in der kleinen Siedlung die besonderen Kontakte bildet und dem Leben und dem augenscheinlichen Verhalten der politischen Parteien im Dorf ihren Stempel aufdrückt. Wenn in der Stadt Nachbarschaft vorhanden ist, in den den großen Häusern und am Stadtrand, so ist es ktfine natürlich gewachsene Nachbarschaft, sondern gerade in den Zinshäusern ein Ausdruck erzwungener Vermassung. In den Wohlstandsquartieren etwa der Wiener Cottage muß eine außerhalb der Wohnregion organisierte Geselligkeit, die „Gesellschaft“, die Nachbarschaft, die dem Urwillen des Menschen zur Gemeinschaft entstammt, notdürftig ersetzen.

Die Gruppen, die sich in der Stadt bilden, sind offen, spontan konstituiert, ein loser Verband, während auf dem Dorf und in den kleinen Städten noch die Vereine überwiegen. In den Städten aber fehlen heute den Organisationen vielfach die notwendigen organisatorischen Verstrebungen in der Masse.

Freilich soll nicht bestritten werden, daß auch die Stadt ihre autochthonen Gebiete hat, gleichsam noch (und da und dort schon wieder) Landgemeinden im städtischen Verband (Wien: Jed-lersdorf, Kahlenbergerdorf).

Das Medium der Integration der Menschen in der Stadt ist aber nicht der Wille zur Gemeinschaft, das Soziale, sondern das Kulturelle einschließlich der Freizeitkulte, ein spezifisch urbaner Geist, der nur unverbindliche Gruppierungen entstehen läßt. Zu allem kommt noch, daß der Beweglichkeitsradius des Städters — als Folge der großen Distanzen von Wohn- und Berufsort — erheblich größer ist als der des durchschnittlichen Dorfbewohners. Die Beweglichkeit erstreckt sich auch auf den Wechsel des Wohnsitzes So umfaßte beispielsweise die regionale Umschichtung in Wien im Zeitraum 1949—1959 (sicherlich auch durch die Nachkriegsereignisse bedingt) in acht untersuchten Gemeindebezirken ungefähr 11 Prozent der Bevölkerung. Schließlich ist der Städter, wenn er auf dem Weg ist, stets in Eile, propagandistisch kaum faßbar, er wechselt seinen Standort rasch und oft und glaubt nur so die räumliche Enge in der Stadt überwinden zu können. Langsamkeit und Geruhsamkeit führen — so meint man — zu Stauungen.

Der Mensch in der großen Stadt ist seelisch anders disponiert als der Mensch im Dorf. Daher ist auch seine Beziehung zur Politik eine durchaus andere. Reizüberflutet, einer Vielzahl von intensiven Attraktionen ausgesetzt, vermag er den Einfluß, der von den politischen Parteien ausstrahlt, nur als einen unter vielen aufzunehmen. Als Folge der komplexen Verflechtung der Einflußmächte ist die Gesinnung des Städters scheinbar erheblich labiler als die des Dorfbewohners. Das zeigt sich drastisch in der Deutschen Bundesrepublik u. a. bei Wahlen im Verhältnis der Zahl der Stimmberechtigten und der abgegebenen Wählerstimmen ebenso wie in der Größe der Zahl der jeweiligen Randwähler.

Die Zugehörigkeit zu einem Verein ist für die Mehrheit der Städter eine unwillkommene Reduktion ihres Spontanverhaltens. Die sogenannte „Vereinsmüdigkeit“ zeigt diesen Sachverhalt an. Ohnedies stets Masse, bewußt und unvermeidbar Masse, will der Städter jede Nivellierung auf der Kontaktebene des Vereines vermeiden.

Die Distanzierung gegenüber allem, was Verein ist, zeigt sich auch im Fall der Parteien, die dem Städter heute meist als durchaus vermeidbare Bindungen erscheinen Das ist freilich anders, wenn die Menschen in der Partei brauchbare Zweckorganisationen, wenn nicht eine Quasi-Kirche, sehen.

Eine ganz besonders starke Parteimüdigkeit zeigt der Städter bei Vollbeschäftigung.Wenn der Mensch in der Stadt — in der Mehrheit der Kategorie der Dienstnehmer zugehörig — ohnedies aus den Effekten der Marktautomatik heraus seinen Lohn und die anderen Arbeitsbedingungen gesichert sieht, wozu dann die Bindung etwa an Interessenparteien (und an die Gewerkschaften)? Dagegen zeigt eine relativ hohe Arbeitslosigkeit gleichzeitig eine Stärkung der Stellung der Interessenparteien. Duverger („Die politischen Parteien“) hat eine Gleichförmigkeit des Wachstums der Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik und des Aufstieges der NSDAP nachgewiesen.

Jede Partei ist, wenn sie nicht ein Interessentenhaufen allein sein will, in Arbeit und Programmatik auf das Ganze des Staates oder dessen, was stellvertretend für den Staat steht, ausgerichet. Das „Ganze“ ist freilich nur dem sichtbar, der abstrakt denken kann. Für die Masse aber bedarf es einer Vergegenständlichung des Ganzen.

Im Dorf ist eben das Dorf, seine Verwaltung, die dörfliche Regierung, das „Ganze“. Dem Städter aber ist seine Stadt meist, weil unübersichtlich, kein offenkundiges Ganzes. Er sieht die Stadt bestenfalls im Modell. Die Politik in der Stadt scheitert daher oft an der Objektlosig-keit. Es fehlt der umgreifbare Gegenstand lie-bend-sorgenden Interesses.

Anders die Partei im Dorf. Sie ist eine Geschlechterpartei, zuweilen von Clans geführt, mit vielen sozialen Abhängigkeiten und Verflechtungen. Die Gesinnung im Dorf ist offenkundig und objektbezogen, das heißt auf das Teilganze des Dorfes und seiner Interessen gerichtet.

In der Stadt hat die Partei nicht den unmittelbaren Sorge-Gegenstand; sie hat auch keinen festen lokalen Standort und ist dem Städter weniger präsent als im Dorf. Die Absenz der Partei im täglichen Leben der großen Stadt verstärkt sich: Die Partei, im Konkurrenzkampf mit den gewichtigen Mächten des Freizeitbereiches, mit dem Tingeltangel der Freizeitkulte, mit der Massenpresse und den Komikern des Rundfunks, kann nur durch besondere und oft nicht-seriöse Attraktionen das Interesse auf sich lenken.

Die Nachrichtendarbietung in der Stadt, meist ein Produkt parteiferner Unternehmungen, hat eine besondere Intensität. Die Periodika werden täglich, ja mehrmals täglich, gelesen. Freilich sehen wir hier -ine langsame Änderung. Der Masseleser verwandelt sich allmählich wieder zum Hörer oder delektiert sich an den Armenbibeln des 20. Jahrhunderts, den Illustrierten. Wo kann nun die Partei mit ihren notwendigerweise sachlichen Darstellungen und oft unpopulären Forderungen gegenüber den Nachrichteneffekten der Konkurrenzinstitutionen bestehen? Kein Wunder, wenn bisweilen die Parteipropaganda im Konkurrenzkampf der Attraktionen den Kältetod erleidet, weil sie eben nichts von dem zu bieten vermag, was eine konsumsüchtige Masse begehrt.

Die Glaubwürdigkeit der Partei muß in der Stadt gegenüber dem Wähler in einer anderen Weise hergestellt werden als im Dorf; nicht so sehr durch Personen, sondern eher durch Ideen, die freilich nicht in der Art dargeboten werden dürfen, wie man Teenagern Güter offeriert. Die Synchronisation vieler Meinungen, das komplexe, sich aufdrängende Anbot an Ideen, Slogans und Chancen macht den Städter blasiert, auch gegenüber den Parteien; er ist eine spröde „Kundschaft“ geworden. *

Die sozialen Schichten im Dorf sind markant. Nicht so in der Stadt. Es gibt aber nicht den Städter. Man kann heute nicht mehr davon ausgehen — das gilt vor allem für die typische Dienstnehmerpartei —, daß die Städter durchweg oder auch nur in der Mehrheit als „Arbeiter“ angesprochen werden wollen. Vom Standpunkt des Interesses einer Partei müßten die Angehörigen der sozialen Schichten als das angesprochen werden, was sie in der Gesellschaft sein wollen und nicht, was sie offenkundig sind. Heute fühlen sich bereits viele Arbeiter, und noch mehr die Arbeiterfrauen, durch die Klassifikation als Angehörige des Arbeiterstandes diskriminiert. Die Parteien sollten jedenfalls erkennen, daß die Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung eine vielschichtige ist, und dementsprechend verfahren.

Schließlich dürfte nicht übersehen werden, daß der Städter tagsüber meist im Betrieb lebt. Die nicht-sozialistischen Parteien haben nun die Menschen selten im Bereich ihres betrieblichen Leistungsvollzuges aufgesucht, vielleicht aus Angst, dadurch in den Interessenkonflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Zwitterstellung einnehmen zu müssen. Dadurch aber sind die Menschen vor allem in den Großbetrieben und in der Situation ihres Arbeitsvollzuges nur von einigen Parteien angesprochen worden.

Was für Nutzanwendungen könnten nun angesichts der Eigenart von Stadt und Städter für die Arbeit der politischen Parteien gezogen werden?

Organisatorisch wäre es notwendig, die bezirkliche Organisation durch Konstitution von dorfähnlichen organisatorischen Regionen zu aktivieren. Bei einer regionalen Aufgliederung müßte freilich darauf Bedacht genommen werden, daß die alten amtlichen Bezirkseinteilungen oft nicht mehr echte und brauchbare Abgrenzungen andeuten. Wie sehr haben etwa die Schnellverkehrsstraßen — die Kanäle der großen Stadt — die Bezirke auseinandergerissen und da und dort „Rettungsinseln“ als neue Regionen entstehen lassen. Jedenfalls müßte die große Stadt parteiorganisatorisch gleichsam in arteigene Planquadrate aufgegliedert werden, unter Bedachtnahme auf neue Siedlungs- und Verkehrsschwerpunkte. Die Aktivierung der bezirklichen Arbeit, die bisher weithin vernachlässigt wurde, bietet den Parteien auch die Möglichkeit, den Aufwuchs von neuen Führungsgremien zu fördern. Wenn alle Macht, die tatsächliche und die sichtbare, in der Stadt nur auf höchster Ebene konzentriert ist, wird in der Organisation zwischen oben und der Masse eine Lücke offengelassen, die in Wahlzeiten nicht mehr aufgefüllt werden kann, es sei denn notdürftig durch honorierte, ad hoc ernannte Funktionäre.

Abschließend sei festgestellt, daß sich eine Partei in der großen Stadt eindeutiger als etwa im Dorf auch wie ein Dienstleistungsunternehmen darbieten muß und sich nicht nur auf ein Da-Sein beschränken darf. Die Führung einer Partei sollte annehmen, daß das Interesse an ihr nicht vorweg gegeben ist, sondern erst zu wecken ist. Das heißt: Die Partei hat sich dem skeptischen, politisch oft durch Argumente übersättigten Städter als ein für ihn notwendiges Gebilde zu legitimieren.

Eine politische Strategie im großstädtischen Raum kann heute, ohne Einsicht in die typischen Gruppierungen und Ideologien in der Stadt, ohne Kenntnis der besonderen Eigenart des Städters in der Situation politischer Stellungnahme, nicht mehr wirklichkeitsgerecht handeln. Gerade die sogenannten „bürgerlichen“ Parteien gehen aber in der Art ihrer Organisation und Aussagen oft noch von der Fußgänger- und Fiakerstadt, der Handwerker- und Besitzrentnerstadt aus und übersehen weithin, daß die große Stadt heute — und die Menschen in ihrem Bereich — den Parteien neue, auf ihre Eigenart abgestimmte Organisationsweisen und Attraktionen abverlangen.

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