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Der Großstädter

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Der bodenständige Mensch, der ohne nallere Beziehung zur Großstadt und ohne genügenden Einblick in ihr Getriebe deren Bewohner rein von außen her betrachtet, ist nur zu leicht geneigt, in diesen ein Bevölkerungsgemisch ohne heimatliche Überlieferung und ohne Sinn für engere Heimat zu sehen. Ja, er hält sie zuweilen für eine kompakte, einheitliche Masse, die alle Brücken hinter sich abgebrochen und sich auf den Steinkoloß zurückgezogen hat.

Doch er tut unrecht daran, seine Anschauung in solcher Weise zu verallgemeinern, weil ihm, wohl unbewußt, das kritische Unterscheidungsvermögen für die einzelnen Kategorien der Großstadtbewohner abgeht. Und nur hinsichtlich eines kleinen, in Zu- und Abgang fluktuierenden Teiles des großstädtischen Bevölkerungsinventars trifft sein Urteil im großen und ganzen zu. Nämlich hinsichtlich jener Schichten, die unter dem Einflüsse oder Eindrücke mehr oder weniger zufälliger Ereignisse oder konjunktureller Impulse sich bald da, bald dorthin wenden, ohne irgendwo dauernd Wurzel zu fassen.

Ganz anders schon steht es um jenen großen Teil der Stadtbewohnerschaft, die aus tieferen Ursachen, wie sie beispielsweise der Daseinskampf, unbändiger Wandertrieb oder Erlebniswille darstellen, die natur- gewachsene Scholle mit dem Granitpflaster und Asphalt vertauscht haben. Diese Menschen haben die Brücken hinter sich keineswegs abgebrochen. Sie bleiben vor allem durch ihre Familien mit der alten, ländlichen Heimat verbunden.

Die Frage jedoch, ob eine Weltstadt an sich auch Heimat sein kann, kamt nur der dort wirklich Bodenständige beantworten. Nur er, weil er dort geboren wurde, weil sich seine Kinderspiele, seine Jugendträume und seine Erlebnisse in jenen Häusern und Straßen, in jenem Lärmen und Drängen zugetragen haben. Nur er, dem das Leben der Stadt und in der Stadt nie neu und fremd, sondern immer vertraut und selbstverständlich war, weil er, mit seinem ersten Atemzuge diesem Leben eingefügt, dieses Lebens, das fortan seine Seele mit geformt hatte, ein besonderer Bestandteil geworden war.

Für alle diese städtisch Bodenständigen ist die Weltstadt tatsächlich Heimat, Wirklichkeit, der ruhende Pol in der Flucht der äußeren Erscheinungen und der inneren Gedankengänge. Diese Städter verbinden mit gleich Bodenständigen nicht nur bestimmte Interessenliriien, sondern auch ein oft durch Generationen fortbestehender Familien- und Freundeskreis. Für sie alle besteht die Heimat nicht nur in dem engeren Bezirke, in dem ihr Heim liegt, sondern in der ganzen Großstadt, in die sie hinein- gewachsen sind und die mit ihnen gewachsen ist und die sie jeder für sich die seine nennen. Und was sie von der Entwicklung dieser Stadt nicht selbst erlebt, das wird ihnen durch ihrer Eltern und Großeltern Erzählungen ersetzt, die sie dann mit ihren eigenen Erfahrungen und Anschauungen innig zu einem Stück verweben, das sie ihr Leben lang hoch in Ehren halten und wieder ihren Erben hinterlassen.

Freilich, in einem Punkte bleibt der Landbewohner dem Städter gegenüber im Vorteil. Der Stadtbewohner kann zu der mit Granit oder Asphalt überzogenen Erde dieser seiner engeren Heimat nicht gut „Mutter” sagen. Wohl zu der Stadt an sich, in der er sein glücklichstes Lachen gelacht, seine traurigsten Tränen geweint. Nicht aber zu dem Steinboden, auf den allein gestützt er bald seelisch verkümmern, aus dem allein immer neue Kräfte zu schöpfen er sich vergeblich bemühen würde. Um Körper und Geist, beide gleicherweise geschwächt und mitgenommen durch die unerbittliche Unrast seines zwischen Mauern eingezwängten Daseinslaufes, zu erfrischen, sie für die ihm innerhalb seiner Sphäre gestellten Aufgaben immer aufs neue zu stärken, muß er immer wieder hinaus an die Urquelle aller Kraft, zu Mutter Erde in Gestalt von Acker und Wiese, Wald und Berg.

Es wird gerade wieder heutzutage — und mit Recht — bei uns viel gesprochen und geschrieben von den Vorzügen des Bauerntums und des bäuerlichen Menschen. Und es ist gut, daß der Städter, sofern er darauf vergessen haben sollte, wieder daran erinnert wird, daß er ohne Bauer auch ohne Brot wäre. Nur dürfte der Städter, der in bestimmten Belangen ebenso unersetzlich ist, bei solchen Auseinandersetzungen nicht zu schlecht wegkommen, indem er, wie so oft zwischen den Zeilen zu lesen oder zwischen Worten zu hören, als heimatloser, eigentlich nicht ganz vollwertiger Volksteil charakterisiert wird. Nur zu leicht fühlt sich dann der Großstädter als sozusagen „verhinderter” Landmann, während andererseits doch jeder, der ihn wirklich kennt, auch von seiner Liebe zur freien Natur weiß, von seiner so oft ungestillten Sehnsucht nach unmittelbarer Berührung mit der Erde.

Bei Unstimmigkeiten zwischen Städter und Bauer liegt der Fehler wohl meist auf beiden Seiten. Sie würden verschwinden, wollte der eine und der andere sich redlich bemühen, zwischen Stadt und Land jene Synthese zu finden und sich ehrlich anzueignen, die allein einen restlosen Ausgleich der wechselseitigen Beurteilung herbeizuführen vermag. Der Städter soll das Wirken und die mannigfachen Vorzüge des Landmanns vorbehaltlos anerkennen, aber auch der Landmann wenigstens die lichten Seiten in Wesen und Leistungen des Städters gebührend würdigen. Und ihn namentlich nicht als Heimatlosen betrachten. Gehen die gegensätzlichen Partner mit ihrem Gewissen ehrlich zu Rate, müssen sie erkennen, wie enge sie im Grunde für alle Fälle zusammengehören. Haben sie doch bei dso weit auch ihre ureigensten Interessen auseinanderlaufen mögen, dieselbe edle Mutter, dieselbe herrliche Heimat.

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