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Marchtrenk: Versuch einer humanen Architektur

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Modeme Architektur ist für viele ein rotes Tuch. Sie wird nicht nur vielfach als häßlich empfunden, sie scheint auch oft - speziell bei Wohnbauten - nicht einmal zweckmäßig zu sein, geschweige denn familienfreundlich, kontaktfördemd oder der vielzitierten „Lebensqualität” dienlich. Obwohl sich die Architekten ständig die Köpfe darüber zerbrechen, wie eine humane städtebauliche Architektur der Gegenwart und Zukunft aussehen könnte, sollte, müßte.

Ein Modell für künftige Projekte ist möglicherweise das am 8. Oktober dieses Jahres eröffnete „Demonstrativbauvorhaben Wohnbebauung Marchtrenk”, das aus Mitteln der Wohnbau- förderung des Landes Oberösterreich und der Wohnbauforschung des Bundesministeriums für Bauten und Technik finanziert wurde. Bauherr war die „Vereinigte Linzer Wohnungsgenossenschaften Ges. m. b. H.” (VLW), die den Ende der sechziger Jahre festgestellten Trend zu neuen, qualitativ höherwertigen Wohnfor- men mittels zweier neuer Bauvorhaben testen wollte.

Die Ortswahl für das erste Projekt fiel auf Marchtrenk, weil hier eine- für den oberösterreichischen Zentral- raum typische - aufstrebende, einem Umstrukturierungsprozeß unterworfene Gemeinde zum Zug kommen sollte. Auf Grund der gewonnenen Erfahrungen wurde im Juni 1977 mit dem zweiten, von Anfang an größer geplanten, Projekt begonnen. In Linz-Biesenfeld entsteht nun eine Wohnanlage im großstädtischen Bereich.

Das Projekt selbst wurde unter Anwendung neuer Qualitätskriterien durch einen Raumordnungs- und Architektenwettbewerb im Jahre 1972 ermittelt. Das Linzer Atelier der Architekten Dtpl.Ing. August Kürmayr und Mag. Arch. Klaus Nötzberger erhielt den ersten Preis zuerkannt und wurde mit der Planung und Durchführung der Bauarbeiten beauftragt.

Architekt August Kürmayr sieht das Projekt als Ergebnis jahrelanger Mitarbeit in der Planungsgruppe Hochschule Linz an, bei der er von 1964 bis 1972 tätig war. Er versteht es als „Produkt einer interdisziplinären Teamarbeit”, denn die darin enthaltenen Alternativen zur üblichen Wohnbaupraxis wurden im gemeinsamen Gespräch zwischen ihm und seinen Freunden von der neu gegründeten Linzer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Soziologen, Psychologen und Ökonomen, entwickelt.

Das seiner Planung zugrunde liegende Konzept umreißt Kürmayr so: „Wir haben viel erreicht, wir haben alle ein Auto, wir haben alle eine Wohnung, wir haben alle Arbeit, wir haben alle Freizeit. Die Technik bietet uns die Möglichkeit, diese Bedürfnisse.zu befriedigen. Sie zeigt uns, wie wir ein Haus bauen. Wir wissen alle, wie wir ein Haus bauen sollen. Wir wissen auch, wie wir die Freizeit verbringen, wir wissen, wie Wir wohnen sollen. Doch was wir nicht wissen, das ist die Verbindung dieser Grundfunktionen: Wohnen - Arbeiten - Freizeit - Verkehr. Auf unseren Hochschulen hat man uns noch beigebracht, Stadtplanung sei zu realisieren in der Trennung der Funktionen. Jede Funktion sollte getrennt von der anderen überlegt werden. Wir haben aber inzwischen durch die Entwicklung gesehen, daß dieses Trennsystem uns nicht weiterführt, sondern im Grunde falsch ist. Was wir brauchen, ist wieder eine Verbindung dieser Grundfunktionen. Was wir brauchen, ist der Versuch einer neuen Synthese!”

Dieser Versuch wurde in Marchtrenk unternommen - im Dienste einer Humanisierung des Lebens innerhalb einer Wohnanlage. Das ganze Projekt basierte auf dem Flächenwidmungsplan der Gemeinde Marchtrenk (Arch. Dipl.-Ing. P. Horacek), einem ökonomischen Gutachten (Prof. E. Novotny) und einem soziologischen Gutachten (Prof. E. Bodzenta). Grundgedanke war das Anlegen von zwei Ebenen, einer unteren für das Auto, einer oberen für den Menschen. Zur entscheidenden Qualitätsverbesserung gegenüber anderen Anlagen trugen die Zusatzeinrichtungen (Hobbyräume für Väter und Söhne, ein Musikraum, eine Sauna, ein kleines Geschäft für den täglichen Bedarf, eine Waschbox für Autos und eine Servicebox mit Montagegrube, vier Kleinkinderspielplätze) bei. Natürlich fehlt auch bei dieser Wohnanlage nicht die schon weitverbreitete Ausstattung mit Baikonen, Terrassen, Keller-, Bügel-, Müll- und Kinderwagenräumen, Autoabstellplätzen, Vorgärten und Waschküchen.

Die Bewohner der 124 Wohneinheiten, zur Hälfte Eigentums-, zur Hälfte Mietwohnungen, die zwischen 36 und 130 Quadratmeter groß sind, fühlen sich in ihrer Wohnanlage wohl. Das hat eine Erhebung der Reaktionen, Meinungen, Einstellungen und Wertungen der vom Bauprojekt unmittelbar betroffenen Bewohner der March- trenker Wohnanlage zweifelsfrei ergeben. Es stellte sich auch heraus, daß eines der erklärten Ziele, nicht nur wohlhabenden, sondern auch ärmeren Personen ein besseres Wohnen zu ermöglichen, erreicht werden konnte.

Denn bei 64 Prozent der Bewohner liegt das Familieneinkommen unter 12.000 Schilling pro Monat, bei 86 Prozent unter 15.000 Schilling.

Der Versuch, ein zentralraumorientiertes Wohnzentrum zu schaffen, kann als geglückt bezeichnet werden, immerhin kommen nur 50 Prozent der Bewohner aus Marchtrenk selbst, der Rest aber aus dem Raum Linz, aus dem Raum Wels oder aus der weiteren Umgebung. Dabei verdient der Umstand Beachtung, daß nur drei Prozent der Arbeitnehmer länger als eine Stunde zu ihrem Arbeitsplatz benötigen, aber 82 Prozent nicht einmal eine halbe. Diese Werte liegen deutlich günstiger als der Durchschnitt der Pendlerzeiten im Zentralraum. 91 Prozent der Arbeitsplätze sind im Bereich March trenk, Linz, Wels, Wels-Land und Linz-Land.

Die zitierte Untersuchung ergab auch, daß die Wohnungen größtenteils den Wünschen der Bewohner angepaßt sind. Die überwiegende Mehrheit ist mit der Größe ihrer Wohnung, mit der Zahl der Räume, mit der Anordnung der Räume und der Größe der Räume zufrieden. Besonders begrüßt wurde das in der Regel recht günstige Verhältnis von Wohnfläche zu Freifläche, das je nach Wohntyp zwischen 1:0,16 und 1:1,24 beträgt Natürlich steigt die Zufriedenheit mit der Größe der privaten Freiflächen.

Alles in allem kann Marchtrenk durchaus als Modell dienen, nicht nur für’die nun geplanten 640 Wohnungen in Linz-Biesenfeld. Die Dachterrassen, die Trennelemente der Wohnhöfe benachbarter Wohnungen, die Blumen- tröge, die Kinderspielplätze, die Außenbeleuchtung und Möblierung, das übersichtliche Orientierungssystem, lie Verbindungsrampe zwischen erster und zweiter Ebene (äußerst praktisch für Behinderte, Kinderwagen Dder Spielfahrzeuge), die Freitreppe zur zweiten. Ebene, die Befestigung der Wege, die gärtnerische Außengestaltung, die moderne Wärme- und Schallisolierung und schließlich die Flexibilität der Wände, die ein völlig individuelles Wohnen ermöglicht, all das ist.„anderswo noch keineswegs selbstverständlich, in Marchtrenk aber wurde es zumindest zur Zufriedenheit der Bewohner gelöst.

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