Musterländle des Bauens

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Gelungene Beispiele zeitgenössischer Architektur muß man in Vorarlberg nicht suchen. Man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt.

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Gelungene Beispiele zeitgenössischer Architektur muß man in Vorarlberg nicht suchen. Man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt.

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Ob im Rheintal, im Walgau oder Bregenzerwald, im Ländle muß man moderne Baukunst nicht suchen. Man begegnet ihr auf Schritt und Tritt. Daß Architektur hier zum Alltagsphänomen wurde, hat mehrere Gründe.

Seit drei Jahrzehnten haben hier die Architekten daran gearbeitet, ihre technisch-ökonomische Kompetenz aufzubauen. Grundsteine wurden schon in den siebziger Jahren mit innovativen Siedlungen und Privathäusern gelegt. Purin, Wäger, Wratzfeld, Eberle, Juen, Gnaiger, Mittersteiner und andere propagierten Bauweisen, die es auch den Laien erlaubten, zum Bauprozeß beizutragen. So konnten sich besonders junge Familien Wohnungen ohne lange Kreditrückzahlungen leisten. Mit harscher Kritik an der Ästhetik der Postmoderne traten die Vorarlberger damals an, eine neue Baukultur "von unten" zu entwickeln: Architektur aus den Bedingungen des Kontextes mit einer "verständlichen Sprache", die aber nicht "den Leuten nur nach dem Mund redete". Und sie konzentrierten sich dabei auf das "Einfache, Klare, Konstruktive".

Mitbestimmung Die pfiffigen Holzbauten der damals kaum zwei Dutzend "Vorarlberger Baukünstler" stießen bei Behörden und Anrainern auf massive Vorurteile. Doch bald wurde klar, daß das keine formalistische Mode war, sondern daß diese Häuser zu geringeren Kosten räumlich, funktionell und ökologisch viel bessere Lösungen boten als herkömmliche.

Ein weiterer Faktor lag darin, daß diese "Vorarlberger Bauschule", wie sie von Wien und Zürich aus genannte wurde, für die Mitbestimmung und Mitarbeit der Bewohnerinnen und Bewohner Pionierarbeit leistete. Und dieser beidseitige Lernprozeß hat zur breiteren Akzeptanz eines nichtelitären, partnerschaftlichen Berufsbildes wesentlich beigetragen.

Im Unterschied zu anderen Regionen hat neue Architektur hier auch im raumplanerischen und feuerpolizeilichen Vis-a-vis viel Verständnis gefunden. Um 1988 erfolgte im Land dann ein Aufschwung der Wettbewerbe. Es gab eine Welle von Ausschreibungen zu größeren Projekten, die fast durchwegs von jungen, heimischen Planern gewonnen wurden. Seit 1990 agiert auch das Energieinstitut Vorarlberg mit einem Netz von Zweigstellen, Förderungsaktionen und emsiger Öffentlichkeitsarbeit. Vorarlberg hat heute in Österreich die weitaus größte Dichte an Energiesparhäusern.

Aus dem durchaus nicht konfliktfreien Prozeß der Vertrauensbildung zwischen Planern, Nutzern, Bauträgern, Behörden, Gewerben und Medien ist seit den frühen 90er Jahren ein Dimensionssprung erfolgt, gleichsam eine Kettenreaktion, sodaß nun auch die großen öffentlichen, die industriellen und gewerblichen Bauaufgaben in den Städten und Dörfern - mit wenigen Ausnahmen - sich qualitätvoll darstellen.

Modernes Bauen fand in diesem Land einen spezifischen Nährboden. Es ist das kleinste, nach Wien am dichtesten besiedelte Bundesland. Es hat einerseits eine lange bäuerliche Tradition - und mit ihr verbunden ein starkes Bewußtsein von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Andererseits formierte hier sich früh die Industrialisierung, gekoppelt an internationale Kapital- und Handelsverbindungen. Relativ gesehen ist Vorarlberg die am intensivsten industrialisierte Region Österreichs. Von 160.000 Berufstätigen sind nur 4.400 in der Land- und Forstwirtschaft tätig (hier leben weniger Vollerwerbsbauern als in Wien), aber 64.000 in der Textil-, Elektro- und Maschinenindustrie. 1994 produzierte das Ländle pro Kopf viermal beziehungsweise fünfmal soviel an Exportgütern wie Japan oder die USA und wurde in dieser Wertung nur von der Schweiz übertroffen. Das Land hat die höchste Geburtenrate in Österreich, auch (mit Wien) das höchste Lohnniveau, produziert mit dem geringsten Energieverbrauch, hat 17 Prozent Fremdarbeiter, einen ganz breit gestreuten Grundbesitz. 75 Prozent der Wohnungen sind im Eigentum.

Der Prozeß der Suburbanisierung des Ländlichen verlief - speziell im Rheintal - extrem schnell. Viele Orte konnten die Bevölkerungszahl in den letzten 60 Jahren verdreifachen. Fast 80 Prozent der Bausubstanz stammen aus der Zeit nach 1945. Ein spezielles Erbrecht und das traditionelle Statussymbol des eigenen Hauses ließen die höchste Dichte von Einfamilienhäusern entstehen und führten - mit den explosiv angewachsenen Betriebs- und Verkehrsbauten - auf engstem Raum zu heterogener Zersiedelung.

Das Rheintal von Feldkirch bis Bregenz - historisch eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen über die Alpen, aber bis 1900 ein durch Überschwemmungen ständig bedrohter Lebensraum - ist heute eine 30 Kilometer lange Agglomeration mit einer urbanen Siedlungsdichte von 1.500 Einwohner pro Quadratkilometer, mit einer Reihe von selbstbewußten Gemeinden, einer lebendigen Demokratie und einer dynamischen, international orientierten Unternehmerschicht, - ein "Klein-Los Angeles" beinahe, eingebettet in eine traumhafte Naturkulisse: die Steilhänge der Alpen, die zum Großteil noch geschützten "Rieden" im Tal und den optisch nochmals ganz anderen Maßstab des Bodensees.

Daneben haben sich im Bregenzwald Eckwerte jener Kultur freier Bauern erhalten, die aus extremen Umweltbedingungen die strengste und zugleich kultivierteste rurale Haustypologie hervorbrachten, gestützt auf ein Holzbauhandwerk, das heute noch vital erscheint. In den neunziger Jahren haben die Zimmereien und Tischlereien einen Zustrom von Lehrlingen wie nie zuvor; die Firma Holzbauwerk Kaufmann in Reutte zählt inzwischen zu den führenden Betrieben in Mitteleuropa. Und jede Zimmerei, die auf sich hält, bietet mit Architekten entwickelte Fertighaustypen an, die jeden Vergleich mit skandinavischen bestehen.

Mit diesen Daten und der Mentalität des alemannischen "schaffe, schaffe, Hüsle baue" und des walser/wälderischen Pragmatismus, erscheinen die Erfolge sachlich engagierter Architekten fast zwingend, und waren doch alles andere als selbstverständlich.

Zu den wichtigsten Bauten der letzten Jahre zählen: die Erweiterung des Festspielhauses (Dietrich/Untertrifaller), das Kunsthaus Bregenz (Peter Zumthor), der Vetterhof in Lustenau (Gnaiger), die Schulen in Mäder (Baumschlager/Eberle), Warth (Gnaiger) und Bregenz/Weidach (Spagolla), die Banken in Satteins (Gohm/Hiessberger) und Götzis (Frei/Ehrensperger), der Gemeindesaal in Wolfurt (Huber/Cukrowicz/ Nachbaur), die Pflegeheime in Feldkirch (Köberl bzw. Noldin/Noldin) und die Feuerwehrzentrale Dornbirn (Ritsch). Bei den Niedrigenergiehäusern sind jene von W. Unterrainer und H. Kaufmann überregional führend. Hotellerie und Touristik hinken noch nach.

Aber auch kleine und kleinste Gemeinden wie Satteins, Schlins, Thal, Marul, Koblach, Nüziders, Bizau oder Hittisau bemühen sich um moderne Ergänzung ihrer Bausubstanz. Städtebaulich war der von Dornbirn initiierte Stadtbus am erfolgreichsten: ein perfektes interdisziplinäres Produkt, das sofort bei den anderen Bezirksstädten Schule machte.

Rationalität, Brauchbarkeit, Ökonomie und Eleganz am Puls der Zeit prägen heute die Vorarlberger Bauszene. Und das sind nicht theoretisch applizierte Visionen, sondern Resultate einer konkreten, vom Handwerklichen Schritt für Schritt zum Industriellen vorgedrungenen Entwurfspraxis, die der sprichwörtlichen Sparsamkeit und dem hochentwickelten Preis-Leistungs-Denken der Alemannen offenbar punktgenau entgegenkam.

Der Autor ist freier Publizist und Architekturkritiker.

Fülle und Vielfalt beim Bauen Das kirchliche Bildungshaus St. Arbogast. Die Hauptschaltwarte der Illwerke in Vandans-Rodund. Die Golmerbahn im Montafon. Der Gewerbepark in Lauterach. All diesen Bauten ist gemeinsam, daß sie in Vorarlberg nach 1980 errichtet wurden - und daß sie im Architekturführer "Baukunst in Vorarlberg seit 1980" von Otto Kapfinger abgebildet und beschrieben werden. - Das vom Vorarlberger Architektur-Institut im Kunsthaus Bregenz herausgegebe Buch ist ein eindrücklicher Nachweis, wie sehr Bau-"Kunst" im Ländle verbreitet ist - und eben vom privaten über den gewerblichen bis hin zum öffentlichen Bau reicht. Das Gebotene beeindruckt und lädt auch Nicht-Vorarlberger zum - neidvollen - Blättern ein. Die Fülle und die Vielfalt, wie sie in Otto Kapfingers Buch zur Geltung kommen, sind erstaunlich; sie weisen Vorarlberg tatsächlich als "Musterländle" in bezug auf das Bauen auf. ofri Buchtip BAUKUNST IN VORARLBERG SEIT 1980. Ein Führer zu 260 sehenswerten Bauten. Von Otto Kapfinger. Mit 420 Abb. und 11 Kartographien. Kunsthaus Bregenz und G. Hatje Verlag, Bregenz/Stuttgart 1998. 336 Seiten, brosch., öS 290,-/e 21,08

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