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Mit Phantasie und Ausdauer gegen die Not

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Ein Mitarbeiter der Caritas St. Pölten appelliert an uns: Wir dürfen Rumänien, an dem dem Westen anscheinend nicht viel liegt, nicht vergessen.

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Ein Mitarbeiter der Caritas St. Pölten appelliert an uns: Wir dürfen Rumänien, an dem dem Westen anscheinend nicht viel liegt, nicht vergessen.

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Jeden Winter sterben in der rumänischen Provinzhauptstadt Ora-dea im Schnitt 2.000 Menschen, nur weil sie nicht genügend zu essen bekommen. Schon ein kurzer Spaziergang durch das Zentrum der zehn Kilometer von der ungarischen Grenze entfernten Stadt läßt das Ausmaß der Not erahnen. Es sind nicht bloß die heruntergekommenen, einst prunkvollen Hausfassaden rund um den Hauptplatz und die kaputten Straßen. Hier funkioniert nichts mehr, wie es soll. Die überall bemerkbaren Fernheizungsrohre rosten vor sich hin, Flüssigkeit entweicht, ohne daß irgendjemand davon Notiz nimmt. Jeder Straßenbahnzug sieht aus, als wäre er in mindestens einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen.

Wie in allen Städten des ehemaligen kommunistischen Ostens haben die früheren Machthaber auch in Oradea Stadtkern und umliegende Dörfer verkommen lassen, um die Menschen in die unattraktiven Wohnblocks zu zwingen. Die schnell in Plattenbauweise herausgestampften häßlichen Gebäude sehen heruntergekommen aus. Fassaden und Stiegenhäuser sind verschmutzt, die Fensterstöcke meist nicht mehr intakt. Die gesamte Umgebung vermittelt den Eindruck einer ungeheuren Hoffnungslosigkeit, der offenbar kaum jemand zu entkommen vermag. Nichts ist mehr von der Aufbruchsstimmung des Jahres 1989 zu bemerken.

Bestehende Strukturen wurden zerstört, neue nicht aufgebaut, der Beichtum des Bodens kann nicht Kapital fehlen, nach fünfzig Jahren Bevormundung ist Verantwortungsbereitschaft nicht mehr vorhanden, die Folgen sind Mutlosigkeit und Desinteresse. Nur ganz selten kann dieser Kreislauf der Hoffnungslosigkeit durchbrochen werden, wenn es aufgeschlossenen, beherzten Menschen gelingt, für ein neues Projekt Fördermittel zu erhalten. Das Geld kommt entweder von kirchlichen oder nichtkonfessionellen Hilfsorganisationen.

In der kleinen siebenbürgischen Gemeinde Tasnad wurden nach der Bevolution von 1989 die Felder eines ehemaligen Staatsgutes vier Jahre lang überhaupt nicht bearbeitet; die Arbeiter hatten die Arbeit ganz einfach niedergelegt.

Im heurigen Frühjahr schlössen 900 kleine Grundbesitzer ihre ihnen durch eine Grundreform zurückerstatteten Felder zu einer Genossenschaft zusammen. Der neue Betrieb verfügt über 1.800 Hektar und beschäftigt 120 Arbeiter. Die treibenden Kräfte sind der Direktor und der Ingenieur, denen es gelang, von der Caritas Oradea als Ergänzung zum vollkommen kaputten Maschinenpark neun Traktoren und drei Mähdrescher zu bekommen. Im Gegenzug liefert der Betrieb an die Caritas regelmäßig Mehl und Früchte.

Diese Bückkehr zur Tauschwirtschaft - ein Ausweg aus dem überhaupt nicht funktionierenden Geldsystem - bringt nur begrenzten Erfolg. Für den Kauf von modernen Maschinen und Saatgut wäre Kapital erforderlich, das aber nicht erwirtschaftet werden kann.

Trotz der existierenden Not hat sich auf dem Land vieles bereits zum Positiven verändert. Ein junger österreichischer Landwirt, der seit 1990 rumänische Bauern in Kursen und Vorträgen weiterbildet, beschreibt anschaulich diese Entwicklung: „Als genützt werden, weil Maschinen und ich vor fünf Jahren das erste Mal nach

Bumänien kam, lagen schätzungsweise zwei Drittel des Ackerlandes brach. Das lag vor allem an den fehlenden Maschinen. Heuer habe ich mit Freude bemerkt, daß praktisch alle Felder bestellt worden sind."

Hinter vielen dieser Projekte, die einen Weg aus der Armut versuchen, steht ein Mann aus Oradea. Es ist der Caritasdirektor Franz Martos. Der Dompfarrer der Kathedrale ist ein kleiner, agiler Mann, dem man seine 70 Jahre nicht ansieht. Unter Ceause-scu mußte er für zwei Jahre hinter Gitter, weil er sich geweigert hatte, einen von der Begierung herausgegebenen Aufruf gegen den Vatikan zu unterzeichnen. „Im Gefängnis habe ich vieles gelernt. Ich habe gesehen, wie man Autos repariert und Wohnungen instandsetzt. Das nützt mir jetzt", sagt der Prälat. Einige Male hatte ihn nur das Wissen, daß auch Se-curitatespitzel illegal Westdevisen umgewechselt hatten, vor weiteren Gefängnisaufenthalten bewahrt.

Sofort nach dem Umsturz des Jahres 1989 hatte er sich an die Wiederorganisation des kirchlichen Lebens gemacht. Er trieb Geld für die Be-staurierung der Domkirche auf und erreichte mit viel Geschick, daß der Pfarrhof - ein halb verfallenes riesiges Gebäude aus dem 19. Jahrhundert - der Caritas für ihre Aktivitäten zur Verfügung gestellt wurde. Heute bietet die Hilfsoganisation in dem gut und billig renovierten Haus eine Vielzahl von dringend benötigten Versorgungsleistungen an. Da findet sich eine komplette Zahnarztpraxis samt Ärztin, die auch Patienten mit geringem oder gar keinem Einkommen behandelt. Eine praktische Ärztin ist an fünf Tagen in der Woche hier zu finden. „Wir haben es erreicht, daß es für Fachärzte zu einer Ehrensache geworden ist, einmal in der Woche bei uns Dienst zu tun", freut sich Martos über die Anerkennung seines Projektes. Der beste Urologe der Stadt, ein Psychiater und ein Kinderarzt stehen an einem Nachmittag in der Woche auch den Armen zur Verfügung. Ein Baum im Erdgeschoß ist zu einer Apotheke umgestaltet worden, die im Gegensatz zu den meisten Apotheken des Landes gut bestückt ist. Die meisten Medikamente beschafft Franz Martos durch Bittbriefe bei großen deutschen Pharmakonzernen.

Wie in Oradea existieren inilumäni-en viele, von Idealisten initiierte und geleitete Hilfsprojekte. Alle zusammen genommen sind aber nicht groß genug, um die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten in Bumänien kurzfristig entscheidend zu verändern. Daß das selbst mit bedeutend größerem Kapitaleinsatz ungemein schwierig ist, zeigt die Situation im vereinten Deutschland. Die in Bumänien geleistete Entwicklungsarbeit läßt sich eher als Hilfe zur Selbsthilfe bewerten.

Ihre wirkliche Bedeutung liegt dort, wo sie Menschen aus der Lethargie herauszureißen und das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten zurückzugeben vermag. „Die Staaten des Westens tun wirtschaftlich nichts für Bumänien. Sie haben auch kaum Interessen dort.

Darüber kann auch das Gerede um einen eventuell einmal möglichen Beitritt zur EU nicht hinwegtäuschen", bemerkt ein Hilfsaktivist abgeklärt. Neben der dringend erforderlichen materiellen Hilfe wird man in Bumänien weiterhin viel Improvisationstalent und Ausdauer benötigen, um für alle wenigstens ein bescheidenes Lebensniveau zu erreichen.

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