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Der Graben wird tiefer

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Die an Frustrationen aller Art wahrlich reiche italienische Politik hat einen Kristallisationspunkt der Enttäuschungen, der die Basis der meisten anderen unerfüllten Erwartungen bildet: das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ungleichgewicht zwischen Nord- und Süditalien. Seit den vierziger Jahren nimmt sich jede Regierung vor, den Graben zwischen dem fortschrittlichen Norden und dem rückständigen Süden wenigstens zu verringern.

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Die an Frustrationen aller Art wahrlich reiche italienische Politik hat einen Kristallisationspunkt der Enttäuschungen, der die Basis der meisten anderen unerfüllten Erwartungen bildet: das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ungleichgewicht zwischen Nord- und Süditalien. Seit den vierziger Jahren nimmt sich jede Regierung vor, den Graben zwischen dem fortschrittlichen Norden und dem rückständigen Süden wenigstens zu verringern.

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Statistische Untersuchungen, die nicht im Dienste einer Wahlspekulation stehen, zeigen jedoch, daß sich das Gefälle in den letzten 18 Jahren ausweitete. (Dr. Guglielmo Taglia- carne: „II Mezzogiorno dal 1951 al’69: ii divario ė aumentato anche per il cammino e stato notevole”).

Wird die Rendite zum Maßstab genommen, sieht man, daß sie sich in der Industrie des Südens ungefähr verdreifachte, in jener des Nordens und Zentralitaliens jedoch vervierfachte. Nord- und Mittelitalien war bereits 1951 etwa fünfmal stärker als der Süden industrialisiert, 1969 gar siebenmal. Selbst im Landwirtschaftssektor hat Süditalien im vergangenen Jahr bei weitem noch nicht die vom Norden anno 1951 erzielte Produktivität erreicht. Lediglich im Dienstleistungssektor entspricht die Zunahme ziemlich genau der in den letzten 18 Jahren im Gesamtdurchschnitt erzielten Steigerung. Vermochten Privat- und Staatswirtschaft (vorwiegend die IRI- und ENI-Gruppen) in den letzten 18 Jahren ihre Produktivität im Süden mehr als zu verdoppeln (122,5 Prozent), so beträgt die Zunahme im ganzen Lande 142,5 Prozent. Das Wirtschaftswunderdreieck Mailand— Turin—Genua verdreifachte beinahe seine Rendite pro beschäftigter Person.

Werden die rund eine Million Arbeitslosen berücksichtigt, die der Mezzogiorno mit sich schleppt, verschiebt sich das Ungleichgewicht noch mehr zuungunsten des Südens. Kein Wunder, daß von drei verfügbaren Kräften auf dem Arbeitsmarkt zwei Meridionali sind. Vor ihnen haben zwischen 1945 und 1969

1,5 Millionen „terroni” (Landpomeranzen, ein in Norditalien verbreitetes Schimpfwort) ihre rückständigen Gebiete verlassen und in Norditalien oder (lieber!) im Ausland Arbeit gesucht und gefunden.

Zwei Süditalien .

Im Grunde muß man heute mehr denn je zwei Mezzogiomi unterscheiden. Der erste ist der Süden, welcher besonders in sozialer Hinsicht rückständiger ist als vor 29 Jahren. Viele Dörfer sind verlassen. Im Erdbebengebiet der Irpinia,

zwischen Neapel und Bari, oder im Innern Siziliens, genügt ein Stöß- chen, um jahrhundertealte, ohnehin baufällige Häuser zu Fall zu bringen. Wo die Ortschaften noch bestehen, sind sie großteils von Frauen, Kindern und alten Männern bevölkert

Die arbeitsfähigen Männer sind im anderen Süditalien, in den Industrien um Latina, Frosinone, Teramo, Ascoli, Piceno, Pescara, Foggia, Bari,

Brindisi, Legge, Taranto, Neapel, Crotone, Reggio Calabria, Messina Catania, Siracusa, Ragusa, Gela, Trapani, Palermo und am Golf von Policastro oder im landwirtschaftlichen Mustergut des Metaponto beschäftigt.

Besonders in den letzten Jahren haben die Industriekapitäne des privaten und öffentlichen Sektors erkannt, daß es sich nicht lohnt, den Norden noch weiter, den Süden weniger zu entwickeln. Mit ihren Hunderttausenden von Zuwande- rem, sogenannten internen Emigranten, haben Mailand und Turin, vor allem ihre wie Pilze aus dem Boden schießenden Vorstädte, Infrastrukturprobleme, gegenüber denen die schweizerischen Sorgen Pappenstiele sind. Die Arbeitskräfte sind im Süden weit billiger als im Norden. Viele haben dort in umliegenden Dörfern, die noch nicht im Sog der Industrialisierung stehen, billige Unterkünfte oder können gar nach Hause schlafen gehen. Da und dort stellen große Unternehmen ihren Arbeitern Autobusse zur Verfügung, die sie früh am Morgen in ihren Dörfern abholen und am Abend (möglichst) heil nach Hause bringen. Das ist billiger als der „Volkswohn- bau” in der Nähe der Fabrik.

Überdies steigt mit vermehrter Industrialisierung des Südens die Aufnahmefähigkeit des italienischen Marktes und besonders jene des Südens beachtlich.

Was bei der Verlegung ganzer Industriekomplexe nach dem Süden am meisten ins Gewicht fällt, sind die günstigen Investitionsibedingungen (niederer Zinsfuß, Steuererleichterungen, nicht rückzahlbare Zuschüsse). Diese Vorteile sind derart erheblich, daß ausländische Industrielle in großer Zahl „angebissen” haben, selbst auf die Gefahr hin, in ein paar Jahren durch eine mögliche kommunistische Machtergreifung wiederum alles zu verlieren. Nach relativ geringer Eigeninvestition (10 bis 15 Prozent) sind sie da und dort in der Lage, in weniger als fünf Jahren die Produktionsanlagen abzuzahlen und haben noch ein gutes Werk zur Erschließung eines der letzten großen europäischen Entwicklungsgebiete getan.

Aber die geringen demokratischen Errungenschaften sind noch lange keine Tatsache. Das Gesetz gibt nur Richtlinien, deren Verwirklichung von Ausführungsbestimmungen abhängt, wobei die Syndikatsorganisation auf Schwierigkeiten mit dem Innenministerium und der Polizei stoßen kann. Besonders der Artikel über Versammlungsifreiheit ist ein kritischer Punkt. Nach den herrschenden spanischen Verordnungen muß jede Zusammenkunft von Personen, gleich welcher Art, die eine Zahl von 20 überschreitet, polizeilich genehmigt werden.

Eine entsprechende Ausführungsbestimmung hierfür und für das Wahlergebnis will die Einheitsgewerkschaft in den nächsten Wochen ausarbeiten, da sie beabsichtigt, die bereits überfälligen Wahlen im April zu beginnen. Bis dahin hofft sie auch, zumindest die Aussichten für eine Amnestie politischer Häftlinge abzutasten.

Viele spanische Arbeiter sitzen

Photo: Votava mehrjährige Gefängnisstrafen für Vergehen ab, die nach dem neuen Gesetz legale Freiheiten sind. Zu diesen Arbeitern zählen die Führer der paragewerkschaftlichen „Arbeiterkommissionen”, denen bei den letzten Syndikatswahlen eine Unterwanderung dieser staatlichen Organisation gelungen war.

Von befugter Syndikatsseite wurde versichert, daß die Einheitsgewerkschaft sich für eine derartige Amnestie einsetzen werde. Dies ist allein schon im Hinblick auf das demokratische europäische Ausland notwendig, denn das neue Gesetz wurde auch zur Erleichterung der Eingliederung Spaniens in den Gemeinsamen Markt geschaffen, und die Einheitsgewerkschaft wünscht sehn- lichst enge Kontakte mit europäischen Gewerkschaften, ja sogar deren Teilnahme und Kritik.

Auch räumt sie ein, daß das neue Gesetz nicht für 30 Jahre gedacht ist, sondern vielleicht nur für drei oder vier.

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