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Syrische Renaissance

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In weniger als eineinhalb Stunden erreicht man von Beirut aus, auf der für orientalische Begriffe hervorragenden Autostraße, die syrische Metropole. Aber nach der kosmopolitischen, etwas anarchistischen Atmosphäre Beiruts mit ihrer gemütlich-ärgerlichen Schlamperei fühlt man sich im disziplinierten Damaskus in eine ganz andere Welt versetzt. Selbst in den einer planmäßigen Erneuerung immer mehr weichenden Gassen der Altstadt dieser alttestamentlichen Siedlung herrscht eine peinliche Sauberkeit und eine modern-straffe Verkehrsregelung. Stolz und mit einiger Berechtigung nennt der Syrier seine Kapitale die sauberste Stadt des Orients. Breite Asphaltstraßen und mit neuzeitlichen Ideen geplante Neustadtquartiere überraschen den Fremden und zeugen von der Aufgeschlossenheit und dem Erneuerungswillen des syrischen Dreieinhalbmillionenvolkes. Natürlich finden wir im neuen selbständigen Syrien noch ein verwirrendes Nebeneinander von alt und neu. Seite an Seite sehen wir Rückständigkeit und Fortschritt, moderne syrische Damen in den letzten Pariser Modellen und Frauen, die noch immer in die faltigen Seidentrachten der Vergangenheit gehüllt gehen. Aber der Fortschritt entwickelt ein Tempo, das man beinahe amerikanisch nennen möchte. Immer mehr bleibt das Gestern hinter dem stürmischen Morgen zurück, und in wenigen Jahren wird man das Altorientalische unserer Vorstellung in den entlegensten Gegenden Syriens suchen müssen.

Hand in Hand mit der modernen Entwicklung schreitet ein tiefwurzelnder Nationalismus, der nicht nur proarabisch, sondern vor allem prosyrisch Ist. In den syrischen Schulen, von denen der junge Staat seit seiner Unabhängigkeit eine verblüffend große Anzahl errichtet hat, wird zu Beginn des Morgenunterrichts die Nationalhymne gesungen, während vom Dach des Schulhauses auch an gewöhnlichen Tagen die schwarz-weißgrüne Flagge weht. In den Klassenzimmern und in den Korridoren der viel-zähligen Volksschulen mahnen Koransprüche und nationalistische Inschriften an das ernsthafte Bestreben, die syrische Jugend, die, wie alle arabischen Menschen, sehr individualistisch gesinnt ist, zur Pflicht gegenüber dem Lande zu erziehen. Sprüche wie „Die Nation das bist du“ und „Dein Land liegt in deiner Hand“ verfehlen nicht ihre Wirkung auf die begeisterungsfähige Jugend; sie tragen dazu bei, nicht nur das Pflichtgefühl für die Gemeinschaft, sondern auch das Selbstbewußtsein zu stärken. Selbstbewußte, pflichterfüllte Menschen zu erziehen, tendiert denn auch das neue Schulwesen der syrischen Renaissance, und geschickt versteht man es, die auch bei der Jugend tief verankerte Tradition den Ansprüchen des Fortschritts anzupassen. Während man bei der Auswahl der Unterrichtsstoffe okzidentalen Beispielen folgt, trägt man anderseits den Forderungen der Tradition in der Koranstunde bis in Aeußerlichkeiten Rechnung: da man nach altem Brauch die Worte des heiligen Buches nicht unbedeckten Hauptes anhören soll, verhüllen in der Religionsstunde Lehrer und Schüler ihr Haupt, und mit tiefem Ernst und ehrfürchtiger Andacht werden die Worte des Propheten gehört und erläutert. Und mit gleichem Ernst folgen selbst die “Schüler der unteren Volksschulen den Themen moderner Wissensgebiete.

Eine tiefgreifende und gewaltige Umwälzung auf allen Gebieten des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens ist hier im Gang, Ihre tieferen Ursachen liegen in der Geschichte des Landes. Während mehr als zwei Jahrtausenden' haben Geographie und Geschichte Syrien in die leidende Rolle eines Durchgangslandes gedrängt und innerhalb seiner Grenzen die Reste eines vielfältigen Gemisches aller einst durchgezogenen Heere zurückgelassen: Aegypter, Assyrer, Phönizier, Sumerer, Meder, Perser, Griechen, Röme,

Araber, Armenier, Türken, christliche Kreuzfahrer. Ein Gemisch, wie wir es nirgendswo anders auf unserem Planeten finden, als gerade in diesem unruhigen Winkel der Levante. Vielleicht hätte sich aus dieser Vielfalt von Rassen, sozialen Klassen, religiösen und kulturellen Gruppen im Laufe der Jahrhunderte jene Einheit herausbilden können, die man heute zu schaffen sich bestrebt. Aber durch Jahrhunderte hindurch ein Schachbrett der Machtpolitik, strategische Drehscheibe fremder Heere, konnte sich Syrien nicht zu einem einheitlichen Staat, zu einer festgefügten Nation entwickeln. Doch ein vierhundertjähriger Kampf gegen die Türken (1517 bis 1918), später gegen die als Fremdmacht empfundene Mandatsmacht Frankreich, wurde, wie in andern arabischen Ländern, auch in Syrien zur dynamischen Triebfeder einer völkischen Evolution. Mit der Souveränitätserklärung vom 1. Jänner 1944 war das erste Ziel einer unaufhaltsamen Entwicklung erreicht, und als 1946 auch die letzten Kontingente französischer und britischer Truppen abzogen, stand dieser Entwicklung zur Eigenstaatlichkeit nichts mehr im Wege als sich ungehemmt bemerkbar machende Parteirivalitäten, Gegensätze allzu vieler Obersten, politischer Ehrgeiz der vielen Clanherrschaften und eine mittelalterliche Feudalherrschaft. Und durch den Palästinakonflikt, die Teilung Palästinas und die Gründung des neuen Judenstaates erhielt der arabische Nationalismus im ganzen Orient ungeheuren Auftrieb; so wurde auch die Entwicklung des syrischen Nationalismus beschleunigt und der Ausgleich der vielen Gegensätze und Interessen begünstigt. Die energischen, zielbewußten Maßnahmen der syrischen Staatslenker auf politischem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet müssen noch heute weitgehend als Gegenreaktion gegen die israelische Dynamik aufgefaßt werden und man darf sie nur in diesem Zusammenhange voll werten.

Syrien ist eine Nation im Aufbruch. Das zeigt uns vor allem die ehrgeizige Entwicklung in der Wirtschaft, Naturgemäß liegt das wirtschaftliche Schwergewicht des Landes in der Landwirtschaft, in der annähernd zwei Drittel der heute etwa dreidreiviertel Millionen zählenden Einwohner beschäftigt sind. In den grünen Bergen der Küstengebiete und in den reichen Agrarzonen des Nordens werden ertragreiche Mittelmeerkulturen angebaut: Wein, Getreide, Oel-früchte, Zedrate usw. Im Norden mit den Zentren Aleppo und Latakije ist der Anbau von Tabak, Baumwolle und Maulbeerbaum für die ausgedehnte Seidenindustrie heimisch. 75 Prozent der gesamten Landwirtschaftsproduktion erzeugt allein der Norden, während das steppen- und wüstenbedeckte Flachland im Süden lediglich für die nomadisierende Viehzucht einige Bedeutung besitzt.

In den letzten Jahren seit Abzug der fremden Truppen, vor allem durch den mächtigen Einfluß Adib Schischeklys, wurden mit klarem Blick für die wirtschaftlichen Möglichkeiten die Landwirtschaft in raschem Tempo modernisiert und die Arbeit a-af den großen Gütern rationalisiert. Daß dabei, im Bestreben rasch zu größeren Einkünften zu kommen, auf einzelnen Gebieten auch Raubbau getrieben wurde, ist nicht weiter verwunderlich. Und wenn 1951 eine Insektenkrankhert mangels der notwendigen Vorbeugungsmaßnahmen einen Großteil der Baumwollernte zerstörte und zu einem richtigen Bauniwollkrach führte, so bedeutete das zwar für die syrische Wirtschaft eine schwere Einbuße, aber noch keine Katastrophe. Der Syrier ist ein gerissener und ei folgreicher Geschäftsmann, und man kann icher sein, daß er aus derartigen Lektionen auch seinen Nutzen zu ziehen und die Wiederholung gemachter Fehler zu vermeiden ▼ersteht.

So wurden in der Baumwollproduktion die 1951 erlittenen Verluste schon im folgenden Jahre durch vermehrte Anstrengung wieder wettgemacht, und die landwirtschaftliche Gesamtproduktion erfährt durch die durchgreifende Modernisierung der Anbau-und Erntemethoden alljährlich eine Steigerung, die heute gegenüber dem Stand von 1947 bereits über 60 Prozent beträgt. Für ein in seiner politischen und wirtschaftlichen Entwicklung lange zurückgebliebenes, verhältnismäßig kleines Land, das dazu erst seit wenigen Jahren in seinen Dispositionen unabhängig ist, eine erstaunliche Leistung, die

nicht nur von einem festen, ehrgeizigen Willen, sondern auch von einer — trotz gegenteiligem Anschein — zielbewußten Führung zeugt.

Nicht weniger beachtenswert als die Leistungen zur Hebung der Agrarproduktion sind die Bestrebungen Syriens, für die Verarbeitung seiner eigenen Produkte eine Industrie aufzubauen und sich auch auf anderen Gebieten von den Industrieerzeugnissen des Auslandes unabhängiger zu machen. Zuckerraffinerien, Seifenfabriken, Oelmühlen, drei größere Betriebe zur Herstellung von Schuhen und Lederwaren, zwei bedeutende Zementfabriken, eine riesige Glashütte, zwei bedeutende Textilwcrke, deren eines in Damaskus zu den modernsten der Welt zählt, zeugen von der unermüdlichen Regsamkeit des selbständig gewordenen, keineswegs reichen Landes.

Die wirtschaftlichen Reformen, der politische Aufbau und die vielen neuen sozialen Institutionen verschlingen Unsummen. Syrien muß sparen; es braucht Geld, viel Geld. Aber dennoch bringt man, aus rein politischen Gründen, ausländischen Kreditangeboten ein unüberwindliches Mißtrauen entgegen, und die amerikanische Punkt-IV-Hilfe wurde bisher in Damaskus strikte abgelehnt, weil man sich nicht in die eigenen Pläne hineinreden und noch weniger Sehwlrme rtm fremde! Beratern and

Kontrolleuren umherziehen lassen will. Die führenden Kreise in Politik und Wirtschaft fürchten eine fremde Einflußnahme und zeigen sich daher den angebotenen Dollaranleihen gegenüber wenig entgegenkommend. Selbst der unparteiische Tourist spürt trotz aller Höflichkeit, die in allen Bevölkerungskreisen herrschende fremden feindliche Einstellung, die sich seit der türkischen und französischen Herrschaft erhalten hat und seit der Gründung Israels vor allem gegen die Angelsachsen, zuweilen gegen den Westen überhaupt richtet.

In keinem der arabischen Länder wurzeln Mißtrauen und Feindschaft gegen den neuen Judenstaat so tief wie in Syrien. Die Syrier aller Volksschichten fürchten den dynamischen Expansionsdrang der Israelis, und es wird selbst die Amerikaner eine Unsumme an Geduld und diplomatische Geschicklichkeit kosten, Syrien in den Mittelostpakt als sicheren, zuverlässigen Partner einzuschließen, denn im Gegensatz zu anderen Orientstaaten fehlt den Yankees in Damaskus das bewährte Druckmittel wirtschaftlicher Abhängigkeit. Das hat Oberst Schischekly längst begriffen, und solange er nicht von Seiten der syrischen Wirtschaft selbst oder durch die weitere Entwicklung im Nahen Osten unter Druck gesetzt wird, werden die amerikanischen Bemühungen kaum von vollem Erfolg sein.

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