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QUERSCHNITTE

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Lehrausflüge

Abends am Wiener Westbahnhof. Der Zug fährt ein und speit glückstrahlende Heimkehrer aus: Schüler, die von Lehrausfliigen zurückkommen. Die Eltern können sich kaum des Redeschwalles der Buben und Mädchen erwehren. Sie freuen sich mit. Natürlich gibt es auch Griesgrame, die den alten Kehrreim murmeln:, „Zu unseren Zeiten “ Aber es gibt mehr Menschen, die sich der Unternehmungslust und, nicht zu vergessen, der finanziellen Unterstützung der Elternvereine und der staatlichen Stellen freuen, die unserer Jugend die Schönheit der Heimat zu sehen ermöglicht. Gibt es doch, besonders in den Hauptschulen, viele Mädchen und Buben, die bei dieser Gelegenheit zum ersten und letzten Male auf den Semmering, nach Mariazell, nach Salzburg kommen. Unter anderem wird der Jugend auch der Aufbauwille Oesterreichs gezeigt: es gibt Fahrten, die nicht bloß in der Festspielstadt enden, sondern auch nach Kaprun führen, zur Limbergsperre und zur Anlage Mooserboden. Die Schüler bekommen nicht nur mündliche Erklärungen, sondern auch einen hübsch aufgemachten Prospekt mit überaus lehrreichen Zahlen in die Hand. Diese Form von Staatsbürgerkunde wäre aber lückenhaft, zeigte man den Jugendlichen nicht auch einmal den Lebenswillen der Menschen, die, um ihrer Spradie willen von Haus und Hof vertrieben, bei uns Industrien aufgebaut haben. Warum scheut man sich, die Gablonzer bei Steyr und Kremsmünster aufzusuchen, die zu unseren Devisenbringern gehören? Warum fürchtet man sich, eines der brennendsten Probleme Oberösterreichs zu studieren: die Baracken? Sollen später die Jugendlichen und künftigen Wähler bloß das häßliche Wortspiel von Barocke und Baracke in den Zeitungen lesen? Es ist schon im Vorjahre sonderbar gewesen, daß man zur Festspiel- und Ferienzeit die ausrangierten Wohnwagen an der Bahnstrecke so „geschickt“ durch Zugsgarnituren verstellte, daß man die Wohnungsbedürftigen und die Wäscheleinen kaum sehen konnte. Nicht nur sich selbst zu freuen, sondern auch ein Auge zu haben für die Nöte der Mitmenschen: ist dies etwa keine Aufgabe für einen Lehrausflug?

Ich möchte gern daß Sie, verehrter Leser, sich mit mir freuen über eine wahre Begebenheit, die mir dieser Tage ein Arzt erzählte.

In einer kleinen Stadt Südtirols kam zu der Zeit, als die Lire noch etwas wert waren, zum Gemeindearzt eine alte Frau. Sie sagte ihm, ihre ganze Barschaft betrage 30 Lire und fragte ihn, ob er für dieses Geld die langwierige Behandlung ihres Fußleidens übernehmen könne; mehr besitze sie nicht. Der Arzt überlegte nicht lange, sondern sagte selbstverständlich zu.

Da klopfte es an der Tür des Sprechzimmers, und herein trat ein Mann mit blutüberströmter Wange. Der Arzt bat die Frau, sich im Wartezimmer zu gedulden. Dann widmete er sich dem Patienten, dem bei einem Autounfall ein Ast die Gesichtshaut — vom Ohr bis zum Mundwinkel herab — auf- gerissen hatte. Der Verunglückte, ein ver mögender Deutschamerikaner (die erlesenen Brillantringe ließen den Arzt darauf schließen), bat um eine kosmetische Naht, damit er hernach nicht allzusehr entstellt sei. Das Honorar dürfe ruhig demcyitsprechend berechnet werden. Der Arzt tat seine Pflicht. Dann rechnete er sich ganz rasch im Kopf aus: 100 Lire für die Operation und 200 Lire dürfe wohl die Behandlung der alten Frau kosten — und verlangte insgesamt 300 Lire. Der Herr bezahlte und dankte dem Arzt aufrichtig. Da er nach Salzburg weiterfuhr, gab ihm der Arzt die Weisung, nach zwei Tagen den Verband erneuern und nach fünf Tagen die Fäden entfernen zu lassen.

Nun bat der Doktor die alte Frau herein und gab ihr die 30 Lire zurück. „Nehmen Sie ruhig Ihr Geld wieder an sich; der Herr, der eben da war, hat ihre ganze Behandlung bezahlt.“ Diese aber war ganz unglücklich darüber, daß sie sich bei dem „feinen, noblen Herrn“ nicht einmal bedankt habe.

Nach fünf Tagen kommt die alte Bauersfrau glückstrahlend zum Doktor und erzählt ihm, daß sie soeben den jungen Herrn gesehen habe und sich sehr freue, daß sie ihm nun doch habe danken können. Mit diesem Wiedersehen hatte der gute Doktor allerdings nicht gerechnet!

Nun, es dauert auch nicht allzulang, so steht er dem „Gönner" gegenüber. Dieser war extra von Salzburg hergefahren, um dem Arzt für die gelungene Operation zu danken und sich von ihrn die Fäden herausnehmen zu lassen. Von dem Gespräch mit der alten Frau erzählte er nichts. Da begann der Arzt zu fragen: „Ist Ihnen heute nicht eine alte Bäuerin begegnet?“ — „O ja“, erwiderte der Amerikaner, „eine alte Frau kam ganz erregt auf mich zu und bedankte sich bei mir. Da ich den Dialekt nicht kenne, dachte ich mir, sie wolle Geld. Als ich ihr aber einen Geldschein reichte, nahm sie ihn nicht an, sondern sagte nochmals, si? wolle mir nur danken. Es muß sich wohl um einen Irrtum handeln.“ Nun fühlte sich der Arzt gedrängt, diesem Menschen, der aus einer spontanen Selbstverständlichkeit heraus hatte helfen wollen, den ganzen Sachverhalt unumwunden zu erzählen. Er bot ihm an, sofort die 200 Lire, die er zuviel berechnet hatte, .zurückzuerstatten. Der Deutschamerikaner aber lächelte herzlich und wies das Geld zurück. Er zog seine Brieftasche, entnahm ihr eine 1000-Lire-Note und legte sie dem Arzt auf den Schreibtisch. „Sie werden noch mehr solche Patienten haben!“

Der abstrakte Untermieter

Wie soll der ideale Untermieter aussehen? Daß er möglichst Junggeselle, ganztägig im Beruf, total ungesellig sein, nie Besuch haben, nicht kochen und keine Wäsche waschen soll, das wissen wir bereits. Der ideale Untermieter, wie ihn sich der Vermieter wünscht, ist ein Abstraktum — unhörbar und unsichtbar — und wird nur einmal im Monat, nämlich wenn er seine Miete zahlt, konkret.

Zwei Haubesitzer(innen) in Pirmasens und irgendwo in Württemberg haben aber inzwischen noch andere „Richtlinien“ für ideale Untermieter und solche, die es werden wollen, herausgegeben. Pirmasens: Der Untermieter,

wenn verheiratet, darf höchstens ein Kind haben und muß dem Vermieter Gewißheit verschaffen, daß keine Kinder nachkommen. Und seine Frau darf nicht über fünfzig Jahre alt sein, „weil Frauen über fünfzig nicht mehr richtig sauber machen“. — In dem anderen Fall maßte sich der Hausbesitzer an, in den Kindern seines Mieters „Untermieter“ zu erblicken, deren „Einzug" genehmigungspflichtig sei.

Starr steht der Zeitgenosse, der solche Nachrichten liest, angesichts einer Besitzgier, die am liebsten alles Lebendige tot und gefesselt sehen möchte, um nur den eigenen Fußboden staubfrei zu erhalten, und er erinnert sich wohl der Zeit, da man — es ist erst zehn Jahre her — solchen Geizkragen höchst unchristlidherweise „eine Bombe vors Haus“ wünschte. Das war gewiß kein schöner Wunsdi. Aber schlimm ist es, daß die Lehre von der Vergänglichkeit der irdischen Habe, welche uns die Bomben so nachdrücklich gepredigt haben, so rasch wieder vergessen wird.

Es gibt noch ehrliche Leute

In den „Dolomiten“, dem Tagblatt der Sütiroler, war unter der Rubrik „Funde Verluste" folgende Anzeige:

Am Klausner Markt wurden ein Mutterschaf mit Lamm und zwei Widder an einen jungen Burschen verkauft. Der Verkäufer hat aus Versehen zuviel Geld angenommen. Adr. Verw. . 3927—8

Ist das nicht eine beglückende Bestätigung dafür, daß es auch heute noch ehrliche Menschen gibt?

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