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Der Podesta von Fontamara

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Ein Dörfchen wie Fontamara wäre sich hilflos und verloren vorgekommen wie ein elender, nackter Wurm ohne den Schutz eines Galantuomo, und wenn möglich mußte dieser Beschützer und hohe Herr ein rechtskundiger Mann sein, ein Advokat. Denn die Dörfler brauchten seinen Rat bei jeder Gelegenheit gegen ein gewalttätiges Nachbardorf zu erlangen, man brauchte ihn bei der Arbeitssuche; man brauchte ihn, wenn man auswandern wollte, wenn man während der Militärzeit Urlaub haben wollte, man brauchte ihn bei Kauf und Verkauf, bei Erbschafts-, Ehe- und anderen Angelegenheiten.

Nie hätte ein Fontamarese den Mut aufgebracht, im Municipio auch nur einen simplen Geburtsschein zu verlangen, wenn ein Advokat ihn nicht ins Büro begleitet hätte. Wäre er allein gekommen, so hätten die Beamten ihn wie einen Hund mit Fußtritten hinausgefeuert.

Der Schuster Baidissera konnte sich noch an die Zeit erinnern, als die ersten Züge zwischen Rom und Pescara verkehrten; da versahen sich die Fontama-resen, die die Eisenbahn benutzen wollten, nicht nur mit genügend Geld für die Fahrkarte, sondern auch mit einem Empfehlungsschreiben irgendeines Advokaten, das sie am Schalter der Station Fossa vorwiesen. Erst später, als solche Reisen nichts Besonderes mehr waren und die Züge immer voller, kam der Brauch mit den Empfehlungsschreiben für den Schalterbeamten ab. Und zuletzt ging es so weit, daß die Cafoni heimlich bis nach Rom reisten, ohne Don Circostanza überhaupt davon zu unterrichten.

Aber in allen anderen Stücken hätte sich ein armer Cafone ohne den Schutz eines Galantuomo verirrt und verloren gefühlt wie ein Lamm ohne Hirten.

Und dennoch: die Ältesten erinnerten sich einer Zeit, da war es anders. Damals gab es in unserer Gegend drei, vier Großgrundbesitzer, darunter auch der Bischof; denen gehörte alles, sie regelten auch alles auf Grund von zwei, drei einfachen, leichtfaßlichen Gesetzen, die jeder kannte. Man kann nicht sagen, daß es den Leuten damals gut ging; aber alles war so einfach. Sie wußten, woran sie waren,

Schwierigkeiten und Gaunereien kamen eret mit den Piemontesen ins Land: jetzt gab's jeden Tag ein neues Gesetz; und wenn man aus dem Netz der neuen Verordnungen schlau werden wollte, mußte man sich an einen Advokaten halten. Dem Wortlaut nach waren die Gesetze nicht mehr nur zugunsten der' Großgrundbesitzer da, es galten die gleichen Gesetze für alle. Aber da man sie auslegen, anwenden, umgehen und zum Zwecke der Gewalt verdrehen wollte, wuchs die Bedeutung der Advokaten, und es wuchs ihre Anzahl.

Als ich ein Kind war, gab's nur zwei Advokaten in Fossa, und sie erledigten auch alle Notariatsgeschäfte. Heute haben wir acht Advokaten in Fossa und vier Notare dazu. Ich will gar nicht von den Schwindlern sprechen, die sich mit Vergleichsangelegenheiten befassen. Da gibt es ein paar Winkeladvokaten, die müssen — wenn sie existieren wollen — jede Woche neue Intrigen aushecken, sie müssen cpe geringfügigsten Streitfälle zu langen Prozessen auswalzen. Meinungsverschiedenheiten, die damals im Guten beigelegt werden konnten, dauern jetzt Jahre —, nur wegen der Advokaten. Sie kosten einen Haufen Geld und hinterlassen einen Brutherd von Haß und Groll.

Diese Art von Advokaten ist schuld, wenn die Beziehungen innerhalb der Familien immer schlechter werden. Es gibt keine Treue und keinen Zusammenhalt mehr, überall drängen sich diese Advokaten dazwischen. Und wie sojl man sie auch loswerden? Alles an ihnen ist eigens darauf berechnet, die Phantasie der unwissenden armen Leute zu beeindrucken: ihr Gehaben, ihre Redeweise, ihre Art, sich zu kleiden, zu grüßen, ja, zu essen, zu trinken.

Der Ehrgeiz jedes Cafone geht darauf aus, einen Advokaten zum Gevatter zu haben, und so sieht man auch am Tage der Firmung in der Kirche um jeden Advokaten gut zehn Söhne von Cafoni in Begleitung ihrer festlich herausgeputzten Mütter. Außerhalb dieser Cliquen gibt es nur die Cafoni, die buchstäblich nichts zu beschützen haben, nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren: die Cafoni ohne Land. Allerdings, wenn es sich um Spitzbuben handelt, dann brauchen sie den Schutz der Advokaten nötiger als irgendein anderer Cafone.

Aber dieser ganze „Schutz“ richtet sich selbstverständlich nie gegen die reichen Leute.

Eine besondere Spezies Advokat war Don Circostanza. Er hatte immer ein besonderes Wohlwollen für die Leute von Fontamara, er war unser Beschützer. Wollte ich von ihm erzählen, so gab 3 das eine lange Litanei. Er war zwar immer unser Verteidiger, aber zugleich auch unser Ruin. Alle Streitigkeiten und Prozesse von Fontamara gingen durch sein Büro. Und ebenso nahmen auch die meisten Eier und Hühner von FonUmara ihren letzten Weg in die Küche seiner Gattin, der Donna Circostanza. Das ging schon seit gut vierzig Jahren' so.

Zu jener Zeit, als nur die Leute, die schreiben und lesen konnten, das Wahlrecht besaßen, sandte er einen Lehrer nach Fontamara, der lehrte alle Cafom den Familien- und Taufnamen des Don Circostanza schreiben. Auf diese Weise stimmten alle Fontamaresen einmütig für Don Circostanza. Selbst wenn sie gerne jemand andern gewählt hätten — es. wäre nicht möglich gewesen, denn sie konnten nur diesen einen Namen schreiben. Dann kam eine Epoche, da mußte man den Tod wahlfähiger Männer von Fontamara nicht mehr im Gemeindehaus, sondern bei Don Circostanza in der Kanzlei anmelden. Der verstand sich darauf, die Verstorbenen in seinen Listen lebendig zu erhalten, und bei jeder Wahl benützte er ihre Stimmen nach Gefallen. Die Familien dieser Lebendig-Toten erhielten einen Trostpreis von je füaf Lire. Auf diese Art kam die Familie Losurdo, die sieben Lebendig-Tote von der Sorte hatte, bei jeder Wahl zu einer „Tröstung“ von fünfunddreißig Liren. Die Familien Zampa, Papasisto, Viola und andere, die je fünf Tote hatten, bekamen ihre fünfundzwanzig Lire ausbezahlt. Und schließlich wir — wir hatten nur zwei Tote, die in Wirklichkeit zwar auf dem Kirchhof lagen, aber in der Kartei des Don Circostanza noch weiterlebten (unser armer, guter Junge, der in Tripolis gefallen ist, und der andere, der im Steinbruch verunglückte); bei jeder Wahl waren sie getreue Anhänger des Don Circostanza, und wir bekamen jedesmal zehn Lire dafür.

Mit der Zeit wuchs die Liste der Lebendig-Toten beträchtlich an, das versteht sich ja, und diese Einnahme wurde zu einer verschwiegenen Rente der armen Häusler von Fontamara, eine Einnahme, die keine große Mühe kostete. Und es war auch die einzige Gelegenheit, bei der wir nicht zu zahlen hatten, sondern bezahlt wurden.

Diese vorteilhafte Einrichtung nennt man Demokratie, erklärte uns Don Circostanza. Und dank der zuverlässigen, getreuen Unterstützung unserer Toten blieb die Demokratie des Don Circostanza bei jeder Wahl siegreich. Ich muß zwar gestehen, daß wir hie und da schwere Enttäuschungen an Don Circostanza erlebten, der ganz heimlich mit Don Carlo Magna, unserem ärgsten Blutsauger, unter einer Decke steckte. Aber wir hatten nie den Mut, uns von ihm loszumachen und einen andern Beschützer zu suchen, besonders wegen eben dieser Sache mit _ unseren Dahingeschiedenen, das band uns an ihn. Nur durch seine Macht waren sie noch nicht ganz tot, und sie brachten uns noch immer die kleine Rente von fünf Lire pro Kopf ein. Das war ja kein Reichtum, aber es war besser als nichts. Dank diesem System kam es (unter anderm) auch dazu, daß unter der Einwohnerzahl von Fontamara eine ansehnliche Gruppe von mehr als Hundertjährigen aufgeführt war, die in einem merkwürdigen Verhältnis zu dem winzigen Umfang der Ortschaft stand. Ja, wir kamen durch diese Tatsache sogar eine Zeitlang zu einer bescheidenen Berühmtheit: man schrieb diese Langlebigkeit dem gesunden Wasser in unserer Gegend zu, andere wieder meinten, die Luft wäre so kräftig. Manche Leute schrieben sie der Einfachheit unserer Nahrung, wenn nicht gar unserem Elend zu. Und wenn man auf Don Circostanza hörte, so beneideten uns viele von den allerreichsten Dickbäuchen des Landes, die an der Leber oder am Magen litten oder mit Gicht behaftet waren, ganz offenkundig um die gute Gesundheit und Langlebigkeit. Die Zahl der lebendig-toten Söldner des Don Circostanza wuchs derartig an, daß es ihm gar nicht mehr schaden konnte, als viele Cafoni, empört über die Unterstützung, die Don Circostanza ganz schamlqs unserem schlimmsten Peiniger, Don Carlo

Magna, angedeihen ließ, gegen ihn stimmten: er hatte sich durch seine Methode die Mehrheit für alle Zeilen gesichert.

„Die Lebendigen verraten mich“, warf uns Don Circostanza voll Bitterkeit vor, „aber die heiligen Seelen unserer Toten bleiben mir treu.“

Eines Tages wollte er uns den üblichen Trostpreis nicht mehr ausbezahlen, und zwar unter dem wenig glaubhaften Vorwand, die Wahlen wären abgeschafft.

Wir wußten nicht, was davon zu halten war. Wir besprachen die Sache monatelang unter uns, wir rieten hin und her, aber wir konnten nichts Sicheres darüber erfahren. Wie, unsere Lieben alle sollten plötzlich zu nichts mehr gut sein, sie sollten von nun ab ganz und gar und ein- für allemal tot sein? Das wollte uns nicht in den Kopf. Von Zeit zu Zeit unternahmen es noch immer ein paar Fopta-maresen — irgendeine Witwe, eine arme Familienmutter — zu Don Circostanza zu gehen und die fünf Lire Trostgeld für den lebendig-toten Ehemann zu erbitten: aber — wenn er sie überhaupt empfing — er geriet in wilden Zorn, wenn sie nur ein Wort von unseren Lebendig-Toten erwähnte und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Die Zahl unserer Häusler, die sich noch hinunterwagten und auf ihr altes Recht pochten, wurde immer geringer.

„Was nützt uns unsere Vernunft, wie können wir sie erproben, wenn wir gar nicht wissen, was in der Welt vorgeht?“ sagte der Schuster Baidissera. „Wir wissen doch gar nichts hier oben.“

Aber eines Tages war dieser selbe Baidissera ganz aufgeregt aus dem Flachland nach Fontamara zurückgekommen und behauptete, die Zeit der Lebendig-Toten sei wiedergekommen; jedenfalls glaubte er, diese Entdeckung gemacht zu haben; denn in der Stadt unten hatte er einen Aufmarsch von Männern in schwarzen Hemden gesehen, die hinter einer gleichfalls schwarzen Fahne herzogen, und auf der Fahne sowohl als auf ihren Hemden sah man als einzigen Schmuck einen Totenschädel und gekreuzte Gebeine.

„Ob das unsere Toten sein können?“ hatte Marietta in Gedanken an ihren toten Helden und die fünf Lire Trostgeld gefragt. Aber Baidissera hatte unter ihnen keinen Fontamaresen erblickt, wenigstens nicht mit Sicherheit. Es konnten schließlich doch nicht unsere gewesen sein, denn Don Circostanza wurde nie mehr Podestä von Fontamara.

(Aus dem Roman „Fontamara“, mit Bewilligung des Europa-Verlages, Zürich-Wien.)

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