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Venedig versinkt im Schlamm

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Ein Ehepaar, das dieser Tage an seinem silbernen Hochzeitstag noch einmal über den venezianischen Markusplatz schlendert, steht 7,6 Zentimeter tiefer als zur Zeit seiner Flitterwochen. Denn Venedig sackt ab — und zwar progressiv: nicht mehr nur einen Zentimeter innerhalb einer Dekade, wie noch zu Großvaters Zeiten, sondern stellenweise bereits fünf Zentimeter in zehn Jahren. Seine goldene Hochzeit würde mithin dieses Ehepaar noch näher den vom Lagunenschlamm umschwappten Gondeln zubringen oder aber — zumindest nach einem UNESCO-Bericht — bereits in Gummistiefeln watend. Denn nicht nur sinkt Venedig; auch das Adriawasser steigt zudem jährlich um anderthalb Millimeter. Und sollte sich das Ehe paar für Kunst interessieren, so könnte es, wenn nicht rasch etwas geschieht, seinen Enkeln überhaupt nur noch wenig vom Kunstschatz der Serenissima zeigen, denn der fortschreitende Verfall des „Erscheinungsbildes“ von Venedig ist ebenfalls von Experten kalkuliert worden: jedes Jahr verflüchtigen sich in der Lagunenstadt 6 Prozent der Marmorplastiken, 5 Prozent der Fresken, 5 Prozent der dekorativen Kunst, 3 Prozent der Leinwandmalerei und 2 Prozent der Tafelbilder. Wie bei einem Karzinom-Kranken läßt sich ausrechnen, wann das „unsterbliche“ Venedig gestorben sein wird. Salzwasser der Adria, Abgase der Industrie, Feuchtigkeit der Lagune werden das Glitzerding ausgewaschen haben.

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Ein Ehepaar, das dieser Tage an seinem silbernen Hochzeitstag noch einmal über den venezianischen Markusplatz schlendert, steht 7,6 Zentimeter tiefer als zur Zeit seiner Flitterwochen. Denn Venedig sackt ab — und zwar progressiv: nicht mehr nur einen Zentimeter innerhalb einer Dekade, wie noch zu Großvaters Zeiten, sondern stellenweise bereits fünf Zentimeter in zehn Jahren. Seine goldene Hochzeit würde mithin dieses Ehepaar noch näher den vom Lagunenschlamm umschwappten Gondeln zubringen oder aber — zumindest nach einem UNESCO-Bericht — bereits in Gummistiefeln watend. Denn nicht nur sinkt Venedig; auch das Adriawasser steigt zudem jährlich um anderthalb Millimeter. Und sollte sich das Ehe paar für Kunst interessieren, so könnte es, wenn nicht rasch etwas geschieht, seinen Enkeln überhaupt nur noch wenig vom Kunstschatz der Serenissima zeigen, denn der fortschreitende Verfall des „Erscheinungsbildes“ von Venedig ist ebenfalls von Experten kalkuliert worden: jedes Jahr verflüchtigen sich in der Lagunenstadt 6 Prozent der Marmorplastiken, 5 Prozent der Fresken, 5 Prozent der dekorativen Kunst, 3 Prozent der Leinwandmalerei und 2 Prozent der Tafelbilder. Wie bei einem Karzinom-Kranken läßt sich ausrechnen, wann das „unsterbliche“ Venedig gestorben sein wird. Salzwasser der Adria, Abgase der Industrie, Feuchtigkeit der Lagune werden das Glitzerding ausgewaschen haben.

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Gewiß, der kalkulierbare Tod von Venedig ist zur Litanei der Feuilletonisten geworden. Und am Bett des Patienten drängeln sich so viele Fachärzte, daß der Kranke unter der Vielzahl der divergierenden Diagnosen, denen keine dezidierte Therapie folgt, vollends verendet. Die Gefährdung Venedigs ist ein Exempel dafür, ein abschreckendes, wie eine Stadt im Wirbelsturm ihrer ökonomisch konträren Interessen stagnieren, ja verenden kann. Das bewies erneut der Zweite Internationale Kongreß über Venedig, den die Dogenstadt zusammen mit der UNESCO kürzlich auf der Insel San Giorgio organisiert hatte und bei dem einige Dutzend internationaler Experten dem Kranken ihre Ratschläge erteilten — ohne indes ein einheitliches Rezept verschreiben zu können. Dieser Mammutkongreß war der zweite nach sieben Jahren. Dazwischen hatte das Hochwasser vom November 1966 die Serenissima übersprudelt, und dieses Jahrhundertereignis ließ Panik zurück. Ging es 1962, beim ersten Kongreß, noch darum, Venedig zu konservieren, so lautete die Alternative diesmals schärfer: Sein oder Nichtsein von Venedig. Unmißverständlich zeigten sich die beiden Optionen dieser Stadt auf Millionen Pfählen: rücksichtslose Wiederbelebung durch die „Modernisten“ oder aber Einbalsamierung durch die „Konservativen“.

Die Zukunft wird ausgeklammert

Das Schicksal der Inselstadt Venedig ist vertrackter, es ist verknäuelter als das der Insel West-Berlin, obschon es einige frappierende Parallelen gibt. Es geht nicht mehr nur darum, einen sinkenden Stadtkörper zu retten, verfallende Kunstwerke zu restaurieren — Venedig muß eine neue Rolle finden, als vitale Cityoder bestauntes Museum. Dazu wäre eine Institution erforderlich, die über die Zukunft der Stadt tatsächlich entscheiden kann. „Um Venedig zu retten“, schrieb die UNESCO eher entmutigend, „ohne es zu zerstören,

um es als Traum zu bewahren, ohne den Sinn für Realitäten zu verlieren, dafür ist mehr Genie als Wissen erforderlich.“

Es ist bekannt, daß die Feuchtigkeit aus den Kanälen in die Grundmauern eindringt, bis zu sechs Meter hochkriecht, Gebälk und Gemäuer zerfressend. Von den 40.000 Wohnungen in Venedig sind an die 17.000 baufällig, aber die Renovierung eines verfallenden Palazzo am Canale Grande verschlingt rund 200 Millionen Lire, und deshalb schrecken selbst Unternehmungen oder Institute davor zurück, die vielen leeren, zu Spekulationsobjekten degradierten Palazzi für Repräsentationszwecke zu kaufen. Selbst die Renovierung der verkommenen, rattenverseuchten Hinterhäuser in den schmalen Gassen, diese deprimierende Kulisse zum Potemkin- schen Dorf, zu dem das Fremdenverkehrs-Venedig geworden ist, kommt unvergleichlich viel teurer zu stehen, als eine Sanierung auf dem Festland: 70.000 Lire für den Quadratmeter, und weder Stadt noch Staat gewähren den sanierungswilligen Hausbesitzern irgendeine Steuererleichterung, während anderseits ein Neubau auf dem italienischen Festland für 25 Jahre Steuerfreiheit genießt.

Das Hinterland lockt

Aber selbst wenn die Insel bewohnbar gemacht werden könnte, gleichsam unter eine schützende Glasglocke geriete, würde sich das historische Zentrum trotzdem entvölkern. Die Einwohnerzahl ist seit Jahren fallend, sie liegt mit 128.000 bereits unter den Dogen-Glanzzeiten; dig Bevölkerung ist überaltert, es wird mehr beerdigt als geboren; die leitende Schicht ist abgewandert. Der Grund liegt nicht nur in den Wohnverhältnissen, die so unsanitär sind wie seit Jahrhunderten, sondern in der wachsenden Anziehungskraft des Hinterlandes, das mit komfortableren Wohnungen und produktiveren Arbeiten lockt. So setzen sich nicht nur Geschäftsdirektionen und Finanzkräfte nach Mestre oder Klarghera ab, sondern bereits auch Angehörige des kleinen Mittelstandes. Schon heute pendeln täglich 12.000 vom Festland zu einem Arbeitsplatz auf der Insel. Und wer an einem kühlen Winterabend Venedig erlebt, wenn man auf den Vapo- retti fröstelt, die Restaurants zu Provinzzeiten schließen, zu später Stunde keine Menschenseele auf dem Mar- kusplatz das Schattenspiel genießt, die Schritte der Heimkehi enden durch die engen Gassen hallen, meint, daß das winterliche Venedig zusammenfällt wie ein Badeort, sobald der Fremdenstrom der Sommermonate. abgeflossen ist.

Der Indiustriehafen Marghera war nach dem ersten Weltkrieg von einigen weitsichtigen venezianischen Industriellen gegründet worden und in bisher drei Bauetappen in die Lagune hinein vergrößert worden — gewiß, ohne daß spezialisierte Studien über das delikate Gleichgew icht in der Lagune vorausgegangen waren. Zusammen mit Mestre, dem Festlandvorort, der später in Venedig eingemeindet wurde, sollte dieses Hinterland gleichsam die Lunge der musealen Insel werden, durch die Venedig am Leben erhalten würde. Es ist anders gekommen. Mestre, der Vorort, wuchs rapid, er saugte Venezianer ab, 60.000 über die Jahre hin, aber sein Steueraufkommen half dem Inselsäckel wenig, denn die tonangebende Schicht des Hinterlandes sind keine Venezianer mehr, sondern bereits Vorhut des industriellen Dreiecks, der Stammhäuser in Mailand, in Turin, die ihre ausschlaggebenden Gemeindesteuern im „Dreieck“ zahlen. Venedigs Defizit stieg dabei auf 11 Milliarden Lire jährlich. Und eine Zusammengehörigkeit zwischen der Insel und ihren Satelliten stellte sich dabei nicht ein.

So doktern die Weitsichtigen und die Starrköpfigen in konträren Richtungen an Venedigs Zukunft herum. Während die konservativen Puristen — voran „Italia Nostra“, ein? Art nationalistischer Heimatschutz —, die früher schon die Neubauprojekte von Frank L. Wright, von Corbusier und jetzt vielleicht auch von Louis Kahn als „unvenezianisch“ blockiert hatten, gern ein allgemeines Bauverbot über das Lagunenbecken verhängt sehen möchten, während selbst die Stadtbauabteilung der Gemeinde zumindest die dritte Bauetappe des Marghera-Hafens, die weitere 580 Hektar beanspruchen würde, aufgehalten sehen möchte, bis durch Versuche an einem Lagunenmodell geklärt ist, welche Veränderungen innerhalb der Lagune die Folge der Zuschüttung sein müssen, so setzen die anderen, im Blick auf die weitere Provinz und die kommende Region, alles auf die stetige Industrialisierung des Hinterlandes, um so den Einwohnerschwund im historischen Zentrum aufzuhalten, dem Museum wieder Leben einzuhauchen.

Das Dilemma dieser Konservierungsfanatiker wurde dramatisiert durch einen Zwischenfall, der sich zur Zeit des Kongresses ereignete und leicht in eine Katastrophe hätte ausarten können. Weil sich die Kon- servation der Vollendung des ausgebaggerten Malamocco-Kanals durch die Lagune widersetzte, so schieben sich heute noch Frachter wie Tanker, die von der Adria zum Marghera- Hafen fahren, direkt am Markusplatz vorbei in die Guidecca hin-

ein. Der 12.000-Tonnen-Tanker „Charitas“, vollgeladen, geriet wegen Defektes am hydraulischen Steuersystem außer Kontrolle. Der Lotse an Bord ließ geistesgegenwärtig sämtliche Anker werfen, brachte den Tanker zum Stillstand, der sonst in den Canale Grande hineingefahren und mit der Palazzi-Front zusammengeprallt wäre, was ein Flammenmeer in der Innenstadt hätte auslösen können. Die „Charitas“ war das Geleitschiff eines Tankerkonvois, und die beiden folgenden Tanker mußten blitzschnelle Ausweichmanöver einleiten, um ihrerseits einem Zusammenstoß auzu- weichen. Diese Risken ziehen täglich an die zwanzig Male am Markus- platz vorüber.

Die Rettung Venedigs kann nicht von einer Seite beginnen. Im „Bericht über Venedig“, den die UNESCO unlängst veröffentlicht hat, in diesem Meisterwerk einer Stadtanalyse, das bezeichnenderweise der erste umfassende Krankheitsbericht über Venedig ist, wird klar formuliert: „Es nützt nichts, die Plastiken und die Fresken zu retten, wenn sie dazu verdammt sind, im Wasser zu versinken. Oder Schleusen (bei den Laguneneinfahrten) zu bauen, wenn es kein Vorwarnsystem gibt, um bei heraufziehendem Unwetter zeitig die Schleusentore zu schließen. Oder die Grundfesten der Häuser zu konsolidieren, wenn man die Mauern einstürzen läßt. Oder die Häuser bewohnbar zu machen, wenn bequeme Verkehrsmittel fehlen, um sie zu erreichen. Oder alle Zufahrten zur Lagune zu verbarrikadieren, wenn nicht gleichzeitig ein Kanalisationssystem für Venedig gebaut wird. Es nützt nichts, die .Metropolitana', ein Schnellbahnsystem im Dreieck Insel —Treviso—Padua zu konstruieren, wenn niemand nach Venedig will — die Venezianer nicht, weil sie die Stadt zu alt finden, die Kunstfreunde aus aller Welt nicht mehr, weil sie Venedig zu verjüngt fänden.“ Komitees, Studiengruppen, nationale wie internationale, selbst die UNESCO haben am grünen Tisch gesessen. Die italienische Krankheit — das Fehlen verantwortlicher Entscheidung — vereitelte bisher alles. Einstmals, in Dogen-Zeiten, hatte die Republik ein einzigartiges Amt: den Magistraten fürs Wasser. Er war der zweite Mann in der Serenissima und entschied endgültig, was Lagune und Stadt betraf. Er hatte eine absolute Macht, aber er konnte auch, falls er irrte, am Galgen enden. Einstmals war sogar mit Dekret „jedermann, der nicht Professor oder Kenner ist, verboten, sich mit der Lagune zu befassen“ — die Geldstrafe war hoch. Heute kann der „Corriere della Sera“ süffisant und pathetisch kommentieren: „Alles endet in einem großen Geschwätz, in dem die Tragödie der europäischen Zivilisation, die jene Katastrophe von Venedig ist, das Ausmaß eine Goldoni-Komö- die annimmt."

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