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Hinter der Fassade von Venedig

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Wie verlassen, wie einsam erscheint die Lagunenstadt in den grauen Wintertagen, da die Tauben das einzige, wahrhaft belebende Element des großen Markusplatzes sind! Lustlos ist ihr Flug im Winter, da die Anziehungskraft der gebefreudigen Fremden fehlt, die ihnen in der warmen Jahreszeit zu Tausenden und aber Tausenden reichlich Futter streuen.

Nun ist das Wetter unfreundlich, oft kalt, oft regnerisch, oft böig. Unlängst sprang die kalte „Bora“ der Adria auf und stieß die sonst friedlichen Gewässer der Lagunen in hohen Wogen über die Uferstraßen. Im Nu überschwemmten sie den Markusplatz und die tiefer gelegenen Stadtviertel.

Aber das währte nicht lange und kaum jemand erlitt Schaden. Die winterliche Einsamkeit Venedigs wurde freilich aufdringlicher, und wieder klangen mir die Worte des treusorgenden Stadtoberhauptes in den Ohren: „Als Stadt der saisonbedingten Touristik allein kann Venedig nicht bestehen. Um allen seinen Söhnen auf Dauer Brot zu geben, bedarf es der Aktivierung seines Wirtschaftslebens.“ *

Umberto Tognazzi — so heißt der seit einem Jahr amtierende Oberbürgermeister von Venedig — hat in Italien den Ruf eines moder-■ nen Wohlfahrtspflegers in großem Stil“. Kraft Herkunft und früherer ehrenamtlicher Tätigkeit ist er ganz vom Fürsorgegedanken durchdrungen; in seiner Verwirklichung sieht er eine seiner vornehmsten Aufgaben als verantwortlicher Leiter der Stadtverwaltung.

In einer ausgiebigen und zwanglosen Unterhaltung lernte ich in dem hochgewachsenen, gut aussehenden Fünfziger einen warmherzigen Menschenfreund kennen, der sich mit aller Energie der einseitigen Entwicklung der einstigen „Handelsmetropole der Welt“ zum Fremdenverkehrszentrum Italiens widersetzt.

Mit seiner Formel: „Venedig darf nicht zum Museum zurückentwickelt werden“, legt er den Finger auf die Wunde. Um der zumal in der flauen Jahreszeit notleidenden kleinen Bevölkerung Brot und Bleibe zu geben, bedürfte es der Wiederbelebung seines früher weltbeherrschenden Handels. Aber „Wiederbelebung“ ist hier ein gewagter Ausdruck. Denn der Seeverkehr über das Adriatische, Jonische und Aegäische Meer, der in früheren Jahrhunderten bis zum Nahen und Mittleren Osten reichte und der der Nerv Jahrhunderte blühenden Wohlstandes war, ist heute in andere Bahnen gelenkt.

Ohnehin ist die Bedeutung Venedigs als Seehafen ständig zurückgegangen. Seit Italien, ein Jahrhundert schon, eine politische und wirtschaftliche Einheit ist, muß sich die Hafenstadt noch mehr als früher auf die südlich bzw. südöstlich führenden Seewege (durch den ' Suezkanal), also diesseits des Atlantik, beschränken, wobei es zudem mit den anderen Adriahäfen (besonders Triest, Ancona, Bari, Brindisi) in Wettbewerb zu treten hat, der aber, dank enger Zusammenarbeit und Abgrenzung unter den „Rivalen“, erheblich abgemildert wurde.

Also bedarf es, angesichts der begrenzten Möglichkeiten der Steigerung des Seeverkehrs, der Erschließung anderer wirtschaftlicher Quellen. Der Oberbürgermeister spricht von der sich bedeutend entwickelnden Industriezone von Marghera, die sich mit ihren Werften, Oel-tanks und vielseitigen industriellen Anlagen wie ein breiter Gürtel am Rand der Terraferma (das ist des Festlandes vor dem Uebertritt auf den langen, zur Lagunenstadt führenden Damm) hinzieht. Während sich hier — weniger dagegen in der uralten Glasindustrie von Murano oder der handwerklich organisierten Spitzenherstellung in Burano — allmählich neue Möglichkeiten für dauernde Beschäftigung der im Winter anschwellenden Arbeitslosen bieten, bricht an anderen Stellen wieder Arbeitslosigkeit ein. So soll — wie Tognazzi erzählt — das seltenste und einst bedeutendste Arsenal Italiens, das im Jahre 1104, als die venezianischen Söldner die Gestade Syriens besetzten, entstand und Ausdruck der die Jahrhunderte überdauernden Seemacht der damals größten Handelsrepublik der Welt war, nunmehr stillgelegt und abgewrackt werden. Denn der rückgängige Seeverkehr und die Anforderungen der modernen Technik haben schon seit langem die Rentabilität des berühmten Arsenals in Frage gestellt. Die Stillegung,uber die endgültig das Parlament, bzw. das Wehrministerium zu entscheiden hat, würde 2700 Arbeitskräfte brotlos machen.

Der Oberbürgermeister gibt mir ein eindrucksvolles Bild von der fast permanent zu nennenden Notlage eines Großteils der Einwohner. Die Bevölkerung hat sich in den letzten fünfzig Jahren von 151.232 auf 215;496 erhöht und blieb unter dem Durchschnitt des übrigen Italien. Obwohl sie von den Bombeneinwirkungen des letzten Krieges fast ganz verschont blieb, fehlt es ihr, teilweise infolge des natürlich eingeengten Wohnraums, teilweise infolge unzureichender Kapitalbildung, seit langem an ausreichenden und vor allem gesunden Wohnstätten. So leben in den sechs Bezirken Zentralvenedigs 58 Prozent, nämlich 26.576 Familien von 45.945 in Gemeinschaftswohnungen zusammengepfercht. Zahlreiche Familien fristen ihr Dasein in Bunkern, Baracken, Dachwohnungen. Sodann bedarf Venedig, wie Tognazzi hervorhebt, einer gründlichen „Generalüberholung“. Denn sein baulicher Verfall, zumal in den Fundamenten der Adelspaläste und Wohnhäuser, ist in den letzten 40 Jahren immer weiter fortgeschritten. Eine solche Aufgabe aber wird Milliarden von Lire verschlingen.

Hier hat der italienische Staat einzuschreiten, dem an der Erhaltung seines schönsten Juwels unter den Städten gelegen sein muß. Die in früheren Jahrzehnten hierfür vorgesehenen, ohnehin völlig unzureichenden Beträge sind noch immer nicht nach den heutigen Erfordernissen aufgewertet.

Tognazzi wendet seine ganze Kraft auf, um die vordringlichsten Ziele der Kommunalpolitik zu erreichen: Wohnung und Nahrung für die vielen Beschäftigungslosen. Stolz weist er die zum Teil durchgeführten, zum Teil in Ausführung begriffenen Bauprojekte nach,- die die schlimmste Wohnungsnot beheben sollen.

Mit sorgenvoller und dennoch zuversichtlicher Miene weist er auf die ersten sichtbaren Erfolge seiner Arbeit hin, für die er auch bei den höchsten Dienststellen in Rom Verständnis und Unterstützung erwirkt hat. Und er wiederholt, fast beschwörend, seine Forderung: Nicht nur ständig steigenden Fremdenverkehr , braucht diese einst so reiche Stadt, sondern auch mehr Handel und vor allem mehr Industrie.

Wissen, die nach Zehntausenden zählenden Fremden aus aller Welt, wenn sie sich auf dem Markusplatz und den Lagunen ergehen, um diese vielfachen Nöte hinter den Kulissen der einstigen „Königin der Meere“?

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