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Westdeutschlands größtes inneres Problem

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Krefeld, im Juli 1950 Täglich schwillt die kaum mehr exakt bestimmbare Millionenzahl der Deutschen, die in den Westzonen Obdach und Arbeitsplatz suchen. Der ausländische Beobachter tut gut, alle beschwichtigenden Nachrichten, mögen sie von Aufnahme, Unterkunft, Umsiedlung, Ein-schmelzung sprechen, mit äußerster Behutsamkeit zu verzeichnen. Denn die des amtlichen oder gar parteipolitischen Umhangs entkleideten Tatsachen enthüllen ein Bild unverminderten Elends und Jammers. Eine unlängst mit Hilfe der Länderregierungen durchgeführte „Bestandaufnahme“ erbrachte das Resultat, daß der neue „fünfte Stand“, dessen Angehörige vielfach noch für .Menschen „vierter Klasse“ gehalten werden, nicht einmal mit europäischer Hilfe in gesündere Verhältnisse überführt werden kann. Die Lage ist diese: 15 Prozent der westdeutschen Bevölkerung sind Heimatvertriebene. Schleswig-Holstein, als das „Armenhaus Westdeutschlands“ bekannt, hat den weitaus größten Anteil daran. Niedersachsen und Bayern folgen dichtauf. Nordrhein-Westfalen hat unter seinen 13 Millionen Einwohnern fast 10 Prozent Vertriebene und Geflohene und notiert allmonatlich einen „offiziellen Wanderungsgewinn“ von rund 25.000 Menschen,, gegenüber 2000 im Jahre 1936. Die Zuwanderung hat sich mehr als verzehnfacht und läßt nicht nach! Ein gutes Drittel der arbeitsfähigen Heimatvertriebenen ist gänzlich arbeitslos, in Holstein sogar fast die Hälfte. Von den noch Tätigen, deren Zahl täglich schrumpft, müssen 50 bis 70 Prozent eine andere als die erlernte Tätigkeit ausüben. Die geringsten Chancen bieten sich den Akademikern aller Zweige.

Wir wollen nicht schwarz in schwarz malen. Daran würde uns schon das vorbildliche Wirken der Stadt Düsseldorf, der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen, hindern. Nach wohlüberlegtem Plan, den Ministerpräsident Karl Arnold angeregt und entscheidend mitgestaltet hatte, als er noch Oberbürgermeister von Düsseldorf war, wurden dort mehr als 400 Flüchtlingsbetriebe angesiedelt, und einer der führenden Männer dieser Stadt zögerte nicht, erst kürzlich das Wort zu prägen: „Für uns bedeuten die Vertriebenen Gold.“ Damit wollte er ausdrücken, daß die einsichtigen Düsseldorfer sehr wohl zu schätzen wissen, daß der heimatlose Ostvertriebene menschlich, wirtschaftlich, geistig außerordentlich viel Kapital in eine Stadt mitzubringen vermag. Es stünde in den Westzonen in manchen Dingen weit besser, wenn diese Tatsache nicht nur in Düsseldorf erkannt würde! Besondere Energie und Tüchtigkeit legen die Sudetendeutschen an den Tag. Sie setzen sich manchenorts mit Handweberei, Handschuhniacherei, Glasbläserei und der Anfertigung von Schmucksachen bemerkenswert durch.

Auf das Ganze gesehen, bestehen in den Westzonen etwa 5 Prozent Flüchtlingsbetriebe, rund 20 Prozent müßten es sein. Von diesen 5 Prozent kämpfen viele mit dem Niedergang. Die Geldmittel sind ungemein knapp, und die behördlichen Instanzen lieben es, den Gang der Geschäfte nicht gerade zu beschleunigen.

Arger Mangel an Wohnungen verschlimmert die Lage. Weltdeutschland ist zerbombt, der Wiederaufbau ging bisher so langsam vonstatten, daß immerhin noch an die 5 Millionen Wohnungen fehlen. Um die vielen Zehntausenden, die in Massenquartieren erbärmlichster Art sich zermürben, auf menschliche Weise unterzubringen, müßten allein für sie über 1,5 Millionen Wohnungen gebaut werden — das soll mehr als 15 Milliarden DM kosten. Die notwendigen Ausgaben für Möbel und Hausrat sind darin nicht mit enthalten. Amtliche Stellen behaupten, innerhalb eines Jahres sei die Erstellung von rund 500.000 Wohnungen möglich. Nach dem vorliegenden Wohnungsbauprogramm fallen jedoch in den ersten fünf Jahren nur etwa 900.000 Wohnungen an, und selbst mit dieser Zahl ist nicht zuverlässig zu Technen, wenn nicht plötzlich ein Finanzwunder geschieht. Der Außenstehende mag nun, von umlaufenden Nachrichten bestärkt, meinen, die vielbesprochene Umsiedlung der Ostvertriebenen zum Beispiel in die mit Heimatlosen nur schwach belegten Teile Westdeutschlands, die der französischen Oberhoheit unterstehen, könne die Gesamtsituation erleichtern. Das ist jedoch nicht der Fall. Zunächst wäre zur Umsiedlung grundsätzlich zu sagen, daß ihr offenbar nicht jene klaren konstruktiven Pläne zugrunde liegen, die allein einen Erfolg verbürgen. In derlei Plänen müßte die soziologische Struktur der Vertriebenen berücksichtigt und ferner bedacht sein, w o man ihnen den ihren Voraussetzungen gemäßen Arbeitsplatz vermitteln kann. In ihrer gegenwärtigen Form scheint die Umsiedlung planlos und schleppend. Das ist nichts als eine Feststellung, deren Hintergründe durchaus erklärlich sind: das Ausmaß der zu bewältigenden Aufgabe übersteigt die Kräfte Westdeutschlands. Denn schließlich müssen nicht weniger als vier Millionen Menschen umgesiedelt werden. Dazu wäre nach sorgfältigen Berechnungen die riesige Summe von 28 Milliarden DM aufzubringen. Aber selbst dann könnte das ungeheure Problem nur unzureichend gelöst werden. Nach den neueren Ermittlungen gehört über ein Drittel der Ostvertriebenen land- und forstwirtschaftlichen Berufen an. Bei Anwendung aller Mittel der Bodenreform, “Verpachtung, Rodung und Neulandgewinnung, könnte man zu einem Landanfall von rund 750.000 Hektar gelangen. Mit anderen Worten: es wären 63.000 Vollbauernstellen zu je 10 Hektar, 14.500 Kleinbauernstellen zu je 5 Hektar und 3000 Gärtnerstellen zu je 2,5 Hektar zu schaffen. Außerdem könnten zirka 30.000 Landarbeiterstellen eingerichtet werden. Auf diese (nadi einem vorhandenen Plan berichtete) Weise würden 100.000 Familien produktiv in die westdeutsche Volkswirtschaft eingefügt werden. Das würde gleichzeitig eine Landausnützung stärkster Art bedeuten, und doch blieben etwa 17 0.0 00 selbständige Bauernfamilien und mehr als die Hälfte des Landarbeitervolkes ohne entsprechendes Unterkommen. Für die Ansiedlung der 100.000 Familien wären nahezu 3 Milliarden DM aufzuwenden.

Alle Hoffnungen, die den Vertriebenen am Jahresbeginn und noch in jüngster Zeit gemacht wurden, haben sich a 1 s verfrüht erwiesen. Die von der Bundesregierung angekündigte „aktive Flüchtlingspolitik“ hat keine entscheidenden Verbesserungen gebracht. Die Vertriebenen sind immer noch von lähmendem Steuerdruck belastet, die .Soforthilfe“, die das „Gesetz zur Milderung dringender sozialer Notstände“ zeitigen sollte, schlägt nicht durch, weil ihre Mittel allenfalls für ein Viertel der Bedürftigen reichen, und der „Lastenausgleich“ wird immer noch debattiert. Auch der im Mai getroffene Beschluß des Bundestages, insgesamt 900.000 Heimatlose aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern seien von den übrigen Ländern des Bundesgebietes aufzunehmen, und zwar im Verlauf der Jahre 1950 und 1951, vermag im Endeffekt die Lage nicht wesentlich zu ändern. Die Länder sind faktisch außerstande, diese Vielzahl von Menschen unterzubringen. Angesichts dieser Tatsachen mag es wie eine Erlösung klingen, daß Francis E. Walter, der Vorsitzende jenes Ausschusses, der im Auftrage des amerikanischen Parlaments das Vertriebenenproblem an Ort und Stelle studiert hat, dem Präsidenten Truman eine international organisierte Auswanderung von rund einer Million Deutscher vorschlug. Dem Vorschlag liegt ein 200 Seiten umfassender Bericht zugrunde. Nach dem „Walter-Bericht“ sind für die Auswanderung vor allem landwirtschaftliche Arbeiter vorgesehen. Das Ganze stellt einen großzügigen Plan dar. Doch schon mischte sich Wasser in den Wein; der deutschen Landwirtschaft mangelt es an Arbeitskräften, und die Besorgnis wächst, was geschehen wird, wenn die Quelle des Marshall-Planes versiegt. Ungewißheit und Pessimismus verdüstern alle Berechnungen. Wie soll dieses schwergetroffene Deutschland mit dieser ungeheuren Last fertig werden, gegen welche das christliche Liebeswerk mit allen Kräften ankämpft, mit Kräften aber, die der Riesenaufgabe nicht gewachsen sind. Bisher gibt es noch keine auch nur einigermaßen ausreichende Antwort auf diese Frage, die das Schicksal von Millionen Menschen umfaßt.

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