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Kronzeugen zwischen Ortler und Marmolata

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Die heutige deutsch-italienische Sprachgrenze, wie sie im Wesen unverändert, seit Jahrhunderten besteht, verdankt ihre Dauerhaftigkeit nicht zum wenigsten ihrem Anschluß an Grenzlinien, wie sie von der Natur vorgezeichnet sind. Das ist in einer Zeit, da Imperialismus und Faschismus den klaren politischen Verstand noch nicht eingenebelt hatten, auch von Italienern erkannt worden.

So wandte sich Antonio Gazzo-1 e 11 i („La questione del Trentino“. Milano 1860, S. 38) gegen jene seiner Landsleute, welche damals mit der Angliederung des von Italienern bewohnten südlichsten Teiles Alttirols sich nicht begnügen wollten, sondern darüber hinaus die Annexion des deutschen Tirols bis zum Brenner forderten:

„Ma siecome e un fatto che la popolazione tedesca si spinge al di qua del Brennero e giu sino ai confini del Trentino, talche Bres-sanone e la stessa Bolzano vanno contate fra le cittä tedesche, e siecome sarebbe una triste recommandazione per efti repete 'il suo, lo aspirare alPaltrui, cosi tengasi pure in massima, die il co.nfine di Germania sia segnato al di sotto delle accennate terre e citta, e precisamente lunghesso quelle minore catena d'alpi, che pärtendo ad occidente dalla punta dell'Ortelio spingendosi ad Oriente sino a quello la Marmolata, separa nettamente il Tirolo tedesco dalle ultime terre Trentine a settentrjone... (Aber wie es eine traurige Empfehlung wäre für den, der das Seine zurückfordert, nach dem zu trachten, was dem andern gehört, so halte man nur an dem Grundsatz fest, daß die Grenze Deutschlands *) unterhalb der erwähnten Gebiete und Städte angezeigt ist, und zwar längs jener kleineren Alpenkette, welche, im Westen beginnend, an der Ortlerspitze im Osten bis zur Marmolata reicht und Deutschtirol sauber ... von den letzten trientinischen Landstrichen gegen. Norden trennt).

Gazzoletti nennt diese zuletzt beschriebene Grenze „gia da natura egregiamente predis-posto“ (schon von der Natur ausgezeichnet vorgebildet) und fügt hinzu (S. 41): „Se Italia portera il süo confine alla minore catena d'alpi .. . potra considerarsi da quelle parte come sufficientemente guardata e sicura“ (wenn Italien seine Grenze bis zur kleineren Alpenkette (Ortler bis Marmolata) vorträgt, so wird es sich von dieser Seite als genügend bewahrt und gesichert betrachten können.

Wenige Landschaften des deutschen Sprachgebietes sind so deutlich durch Grenzlinien, welche che Natur vorgezeichnet hat, von anderssprachigen Nachbarn getrennt, als gerade Deutsch - Südtirol. Ganz richtig hebt auch ein italienischer Nationalheld Südtirols, der gefeierte CesareBattisti („II Trentino“, Trento 1898, S. 81), diesen Vorzug der deutsch-italienischen Sprachgrenze in Tirol hervor, wenn er schreibt:

„La catena, che da Cividale alla Marmolata — i giganteschi piloni del Trentino — divide le due regioni, ha verso i paesi tedeschi una sola apertura — quella della valle ate-sina.“ (Die Gebirgskette, welche von der Zufallspitze (Ortlerkette) bis zur Marmolata — den beiden riesenhaften Eckpfeilern des Trentino — die beiden Landschaften (nämlich das deutsche und das italienische Sprachgebiet) scheidet, hat gegen die deutschen Landschaften hin eine einzige Öffnung — jene des Etschtales.“

Nicht nur der Sprache nach, sondern auch im Bild der Kulturlandschaft, in Siedlung und Hausbau, vor allem aber in Wirtschaft, Kultur und sozialer Eigenart ihrer Bewohner stellen die Gebiete nördlich und südlich der Südtiroler Sprachgrenze ausgesprochene Gegensätze dar.

Im Landschaftsbild dies- und jenseits dieser Grenze fällt zunächst ein Gegensatz auf: dieVerschiedenheit des Waldes im deutschen Tirol und im italienischen Tirol. Die Waldwirtschaft der Italiener hat auch in Wälschtirol zu weitgehender Zerstörung des Hochwaldes geführt. Dem Buschwald, wie er für Italien im allgemeinen und für Wälschtirol im besondern kennzeichnend ist, begegnet man zwar auch im südlichsten Teil Deutsch-Südtirols. Audi hier haben seit dem 16. Jahrhundert italienische Holzhändler Raubwirtschaft in den Wäldern veranlaßt. Aber ganz anders ist doch selbst in diesen südlichsten deutschen Landschaften das Verhältnis des Buschwaldes zum Hochwald. In der Bezirkshauptmannschaft Bozen umfaßt der Buschwald etwas mehr als fünf Prozent der Waldfläche, in den Bezirkshauptmannschaften M e r a n und Schlanders nur wenig mehr als drei Prozent. In der Bezirkshauptmannschaft T r i e n t aber macht der Niederwald nicht weniger als 72 Prozent aus.

Stark prägt sich im Landschaftsbild der Gegensatz der Formen landwirtschaftlicher Kultur auf italienischer und deutscher Seite aus. Das gilt vor allem von den Weinlandschaften Welschtirols und Südtirols. In ersterem ist wie in andern Teilen Italiens die gemischte Kultur (coltura mista) verbreitet; deren Wesen besteht darin, daß die Rebe nicht ausschließlich für sich allein oder etwa noch in Verbindung mit Obstbäumen in eigenen Pflanzungen, sondern vorzugsweise längs der Ränder sowie inmitten der Ackerfelder, teilweise auch in den Wiesen und Hutweiden in mehr oder weniger dichten Reihen gezogen wird. In Deutsch-Südtirol hat sich diese Kulturform nur im südlichsten, an das italienische Sprachgebiet angrenzenden Teil des Etschtales auszubreiten vermocht, im allgemeinen herrscht aber auch im deutschen Etschtal südlich Bozen die Pflanzung von Reben in eigenen Weingärten.

Eine augenfällige Verschiedenheit dies-und jenseits der Sprachgrenze äußert sich in den Formen der Siedlung.

Im deutschen Südtirol lebten — wenn man von den Städten absieht — 38.8 Prozent der Bevölkerung in Einzelhöfen, in Wälschtirol, wo die Dorfsiedlung vorwiegt, hingegen nur 11.5 Prozent (nach der Zählung von, 1921). Vergleicht man unmittelbar an der Sprachgrenze gelegene Bezirke miteinander, den Bezirk Bozen auf deutscher Seite, die Bezirke Mezzolombardo und Cles auf italienischer Seite, so sind die entsprechenden Prozente für Bozen 37.4, für Mezzolombardo 9, für Cles 7.

Bei der Ungleichheit des Bodens ist der Ertrag von der Flächeneinheit des Kulturlandes recht verschieden, die Flächengröße eines Gutes vermag daher nicht immer ein zutreffendes Bild von der Leistungsfähigkeit eines Gutes zu geben.Immerhin lassen doch auch die Durchschnittsgrößen des landwirtschaftlichen Besitzes in Nord- und Südtirol einerseits, in Wälschtirol andererseits den großen Unterschied der wirtschaftlichen und sozialen Stellung des deutschen und des italienischen Bauern erkennen. In Deutsch-Südtirol weisen 41.21 Prozent, in Nordtirol 44.7 Prozent sämtlicher landwirtschaftlicher Betriebe einen Grundbesitz von 5 bis 50 Hektar Kulturland auf; Güter dieses Ausmaßes, und zwar auch die kleinsten mit einem Ausmaß von 5 Hektar, vermögen einer Familie von fünf Köpfen den Unterhalt zu gewähren. In Wälsditirol weisen nur 8.9 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe die Größe von 5 bis 50 Hektar auf, während selbst im südlichsten deutschen Bezirk, im Bezirk Bozen-Land, noch 36.4 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe dieser Größenkategorie angehören, im benachbarter deutschen Bezirk Meran gar 50.5 Prozent. In Italienisch-Südtirol sind die Besitzgrößen grundverschieden von denen von Deutsch-Südtirol; 90.8 Prozent aller Betriebe haben hier weniger . als 5 Hektar. Zu den Kleingütern von 0.5 bis 2 Hektar, deren Inhaber einem zusätzlichen Erwerb nachgehen müssen, gehören in Wälschtirol 68.8 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe, in Deutsch-Südtirol hingegen nur 33.47 Prozent. Der italienische Anteil von Südtirol zeigt in den bäuerlichen Besitzverhältnissen eine sehr weitgehende Übereinstimmung mit den Agrarverhältnissen Italiens, wo die Güterverteilung im Erbgange zur Zersplitterung des Grundbesitzes geführt hat, während im ganzen deutschen Teile Tirols und namentlich in dessen Osten das Anerbenrecht, nach dem ein Gut ungeteilt auf einen Erben übergeht, und dann das Tiroler Höferecht von 1900 den Zusammenhalt des bäuerlichen Hofbesitzes sicherten.

So wie die von der Natur gezogenen Grenzen zwischen Deutsch- und Italienisch-Südtirol verlaufen, so haben auch bäuerliches Brauchtum in Siedlungsart und bäuerlicher Kultur und bäuerliches Rechtswesen seit Jahrhunderten sichtbar die Scheidelinie zwischen Mein und Dein des deutschen und italienischen Volkes in Südtirol gezogen.

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