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Verantwortlich ist immer die Majorität

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Österreich war einst der Sammelbegriff für einen Vielvölkerstaat, in welchem es Völker, aber eigentlich keine völkischen Minderheiten gab. Das heute in ganz anderer Form wiederum aktuell gewordene Modell einer solchen umfassenden politischen und wirtschaftlichen Integration litt freilich an vielem, an einigem sogar schwer. Zugrunde gerichtet wurde es jedoch durch den im 19. Jahrhundert jäh aufscheinenden Nationalismus, die nach Guido Zernatto „destruktivste Idee des Jahrhunderts“.

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Österreich war einst der Sammelbegriff für einen Vielvölkerstaat, in welchem es Völker, aber eigentlich keine völkischen Minderheiten gab. Das heute in ganz anderer Form wiederum aktuell gewordene Modell einer solchen umfassenden politischen und wirtschaftlichen Integration litt freilich an vielem, an einigem sogar schwer. Zugrunde gerichtet wurde es jedoch durch den im 19. Jahrhundert jäh aufscheinenden Nationalismus, die nach Guido Zernatto „destruktivste Idee des Jahrhunderts“.

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„Der Rest heißt Österreich“, entschied Clemenceau in St. Gennain — „Deutsch-Österreich“ fügten damals alle (Sozialdemokraten, Christlichsoziale' und Deutschnationale) hinzu. Daraus entstanden viele, und wie sich bald erweisen sollte, verhängnisvolle Irrtümer und Katastrophen. Und außerdem eine Art „Dauerproblem“: nun hatte dieses Österreich plötzlich zu tun mit eigenen „nationalen Minderheiten“, vor allem mit Kroaten und Slowenen.

Während die Kroaten sich jedoch sehr bald und ohne jeden Vorbehalt als Österreicher fühlten und keinerlei Tendenzen zeigten, sich wie eine Irredenta zu betätigen, erwuchs Kärnten ein echtes Problem. Zunächst wurde dessen Lösung auf blutige Art versucht. Die Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 entschied jedoch mit knapper Mehrheit, daß das umstrittene Gebiet, praktisch der Kärntner Landesteil südlich der

Drau, wo starke slowenische Streusiedlungen bestehen, bei Kärnten und damit bei Österreich bleiben soll.

Noch kurz vor dieser Abstimmung bekräftigte (am 28. September 1920) die Kärntner Landesversammlung ihren Willen zu einer „grundsätzlichen Versöhnung der beiden Bevölkerungsgruppen“ und ferner auch die Absicht, die sprachliche, kulturelle, geistige und wirtschaftliche Entfaltung der slowenischen Minderheit nach Kräften fördern zu wollen.

Das blieb leider ein von keinerlei Taten gefolgtes Lippenbekenntnis. Die Erste Republik unternahm nichts, weder auf dem Gebiet der Gesetzgebung oder Verwaltung, noch auf irgend einem anderen, um die einst bekräftigte Absicht zu verwirklichen. Unglücklicherweise handelte es sich auch noch um einen wirtschaftlich besonders zurückgebliebenen und daher durch wirtschaftliche Krisen stark betroffenen Landesteil, wodurch die Dinge nicht einfacher wurden.

1945 setzte die britische Besatzungsmacht eine Art Sonderstatut in Kraft, durch welches unter anderem die gemischtsprachige Schule im südlichen Landesteil geschaffen wurde, sogar auch dort, wo keinerlei Slowenen wohnten. 1955 übernahm Österreich im Staatsvertrag eine Reihe weiterer Verpflichtungen, die zum Teil erfüllt wurden, zum Teil aber bis heute unerfüllt geblieben sind.

Das hat einige Ursachen. Gelegentliche irredentistische Radikalisierungstendenzen in der politischen Vertretung der Minderheit zählen da ebenso, wie etwa gleiche, wenn auch unter anderem Vorzeichen auf der sogenannten „nationalen Seite“. ÖVP und SPÖ befinden sich zudem in einer delikaten Lage: beide besitzen gewissermaßen „freundschaftliche Entsprechungen“ unter der Minderheit (ein slowenischer Abgeordneter sitzt in der SPÖ-Land-tagsfraktion, die ÖVP zieht einen

Vertreter der „christlichen Slowenen“ ihren Klubberatungen bei) und beide wollen ihre „nationalen Flügel“ auch nicht vor den Kopf stoßen, denn dies käme voraussichtlich der FPÖ zugute.

Immerhin wurde dennoch einiges geleistet: nicht nur, daß man zu guten nachbarlichen Beziehungen mit dem slowenischen Staat samt allen Rückwirkungen für die slowenische Minderheit in Kärnten gelangte, es kam auch zu einer relativ (weil bei solcher Problemverzahnung alles „relativ“ bleibt) guten Lösung der Schulsprachenfrage. Die Slowenen erhielten ein eigenes Gymnasium in Klagenfurt, ihre kulturelle, wirtschaftliche und geistige Entwicklung wird zumindest in gleicher Weise gefördert wie jene des deutschen Bevölkerungsteiles. Das stimmt auch dann, wenn einige Slowenen das bestreiten und einige Deutschnationale das kritisieren!

Mit dem 10. Oktober 1970, der 50. Wiederkehr des Abstimmungstages, setzte jedoch eine rückläufige

Entwicklung ein. Leider benützte man das imposante Fest, es war tatsächlich ein Volksfest im vollen Sinn des Wortes, nicht zu einer verpflichtenden Geste. Obwohl „ganz Österreich“ angerückt war, vergaß man darauf, auch nur ein Wort an die Minderheit in deren Sprache zu richten. So etwas schlägt Wunden und reißt Narben auf!

Die Forderungen der Minderheit, zu denen sich christliche und linksorientierte Slowenen gewöhnlich recht einhellig zusammenfinden, wurden dringlicher — und vor allem, sie wurden von Böllerexplosionen, Denkmalsprengungen, Flugzettelaktionen und nächtlichen Schmierkommandos untermalt. Auch „Gegenaktionen“ gab und gibt es, was nicht verschwiegen werden darf.

Wenige Tage vor dem Besuch des jugoslawischen Ministerpräsidenten in Wien reisten die Vertreter der Minderheit in die Bundeshauptstadt, um ihre Forderungen der Regierung vorzutragen. Hinsichtlich zweisprachiger topographischer Aufschriften kam es zu einem Kompromiß, es wird sie bald geben. Die Institutionalisierung einer Art „Minderheitenkommission“ hingegen wurde abgelehnt; es bleibt bei gelgentlichen Gesprächen. Die Forderung nach Ausdehnung des Geltungsbereiches des Slowenischen als Amts- und Gerichtssprache auch in die „Landeszentralen“ (wo es eine Minderheit nicht gibt) fand keine ernsthafte Gegenliebe. „Immerhin war es (doch) ein Anfang“, wie einer der angereisten Slowenen kompromißbereit erklärte.

Wenig später stellte sich die alte, ungelöste Frage erneut in den Weg: wo soll den Forderungen entsprochen werden? Der Kärntner Landtag und auch der Nationalrat hatten sich schon vor längerer Zeit — übrigens einstimmig! — für eine „Minderheitenfeststellung“ entschieden. Nur, wie diese vornehmen? Der sogenannte „Klaus-Entwurf“ (1967) besagte, daß „in den betroffenen Gebieten darüber abgestimmt werden solle“. Das würde nach in Kärnten übrigens übereinstimmender Auffassung eine „Art permanenten Velks-tumskampf“ bewirken, den man sich nicht wünschen darf. Andere Vorschläge zielen auf eine „Minderhei-tenfestsitellung“ durch eine spezielle „Volkszählung“ ab, was wiederum die Slowenen ablehnen. Sie meinen, der „Assimilierungsprozeß sei schon m weit fortgeschritten, der nicht mehr volksbewußte Teil der Minderheit würde ihr dadurch für immer verloren gehen“. Ihr Gegenvorschlag scheint aber ebenso untauglich: er besteht auf dem „Territorialprinzip“, das heißt, wo immer Slowenen einst siedelten, also in ganz Südkärnten und gleichgültig wie viele, habe die Zweisprachigkeit zu gelten. Das wiederum geht über die „internationalen Normen“ hinaus und würde in Kärnten neue Verwirrung stiften, da es ja südlich der Drau große Ortschaften und Siedlungsgebiete gibt, die unter dieses „Territorialprinzip“ fielen, obgleich kein einziger Slowene dort wohnt.

Landeshauptmann Sima, der von geschickten Ratgebern bisher mit einigem Erfolg durch' die diversen Klippen gesteuert wurde, entschloß sich * (sicherlich nicht auf „einsame Weise“) schließlich zu einer radikalen Lösung: er nahm die Volkszählung 1961 zum Ausgangspunkt, in welcher unter anderem nach der „Umgangssprache“ in allerlei Kombinationen gefragt worden war. Wer damals das Slowenische allein oder in irgendeiner Kombination (zum Beispiel „deutsch-slowenisch“, oder „slowenisch-deutsch“) eingetragen hatte, soll der Minderheit zugezählt werden. Und nun sollen zweisprachige topographische Aufschriften usw. überall dort gesetzlich ermöglicht (oder auch erzwungen) werden, wo „mindestens 20 Prozent“ Slowenen siedeln, denn dieser Prozentsatz entspricht nach Ansicht des Landeshauptmannes „der einschlägigen

Fachliteratur und den internationalen Gepflogenheiten“, womit er zweifellos recht hat. Diese Lösung würde auch dem Staatsvertrag entsprechen.

Ihr Nachteil aber ist: weder befriedigt sie die Minderheit noch die Mehrheit vollkommen. Und unglücklicherweise streben beide Teile, zumindest in ihren aktiven Gruppen, die „volle Befriedigung“ an, obschon es diese nach Lage der Dinge niemals geben kann; für die einen nicht und nicht für die anderen.

Mit dieser Vorarbeit ist Kärnten aber auch schon an des Ende seiner Möglichkeiten gelangt. Das Gesetzeswerk und alles, was zur Erfüllung des Staatsvertrages in dieser Hinsicht nötig ist, muß von der Bundesregierung beziehungsweise vom Parlament kommen. Es scheint nicht nur so, es ist auch die Tatsache, daß man dort viele andere und wirklich oder auch nur vermeintlich dringendere, größere und wichtigere Sorgen hat. Aber eben diese Stimmung, der Einsicht, Verständnis und Vernunft so oft geopfert werden (mitunter sogar geopfert werden müssen), bereitet

Bangigkeit. Denn gerade in unserer, so unheimlich (tatsächlich: unheimlich!) fortgeschrittenen Zeit — darüber werden wir an vielen Punkten der Welt sehr schmerzlich belehrt — ist die Sorge um eine tolerante und vernünftige Lösung von Problemen der Minderheit von großer Bedeutung. Durch Unvernunft und Versäumnis einmal radikalisiert, entläuft die Entwicklung jedem Steuervorgang — und irgendwo zerschellt dann alles! Wie man ja überhaupt sagen muß, daß solche Probleme längst nicht so gründlich wie man glaubt nur durch Gesetze, Verwaltungsakte und andere Formalitäten gelöst werden, sondern ebenso, ja vielleicht noch besser durch eine großzügige und weise Mentalität, die man freilich auch in reifen Demokratien nicht immer „auf Vorrat“ hat, die also durch viele kleine, wohltuende und gescheite Gesten und Schritte erst erzeugt und dann wachgehalten werden muß.

Es ist in Mode gekommen, zu sagen: gerade Österreich habe dafür eine glückliche Hand, erstens „seiner Geschichte wegen“ und zweitens, weil es ja in Südtirol selbst „auf der anderen Seite des Tisches“ sitze. Aber das ist — leider — eine sehr unverbindliche und unbewiesene Floskel. Was man ja an den Jahrzehnten ermessen kann, während welcher das Problem seit 1920 ungelöst oder nur halb gelöst weitergeschoben wird.

Nun wäre es falsch, und auch das muß gesagt werden, sich hinter „den Politikern“ zu verstecken, diese der Unfähigkeit oder schlechter Absichten zu zeihen, indessen jedermann unter dem Motto „Was kann ich denn schon dafür?“ sich die Hände in der berüchtigten Unschuld wäscht, derne Name Gleichgültigkeit ist. Die vorhin aufgeworfene Frage nach der Mentalität ist eine Frage an alle Österreicher und ganz besonders an alle Kärntner. Und alle haben-sie zu beantworten. Das sogar täglich; natürlich auch unsere slowenischen Landsleute, die einem schlechten Rat folgen würden, wo der Radikalismus seine Einflüsterung betreibt. Doch auch da noch bleibt zu sagen: der Hauptverantwortliche für das Wohlergehen und die menschenmögliche Zufriedenheit, in der Minoritäten gewissermaßen frei und unbesorgt leben können, ist immer die Majorität! An ihr liegt es, Bedingungen herzustellen, unter welchen sie selbst, stünde die Sache für sie umgekehrt, auch zu leben wünschte.

Abends, wenn wir — in Patschen und allerhand Knuspriges kauend — auf die Flimmerscheibe starren, tut sich regelmäßig eine Welt abstrusen Schreckens vor uns auf: Religions-, Volkstums- und andere blutige, irrationale Gemetzel füllen drangvoll aneinandergereiht das Nachrichtenprogramm. Manche von uns fassen sich da an den Kopf. Sollten wir darüber in der Tat unser eigenes Problem übersehen? Es ist allerhöchste Zeit, es weise und gerecht zu lösen!

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