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Fairer Prozeß mit schlechtem Image

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Eine preiswerte Ausgabe der Nürnberger Prozeß-Protokolle könnte und sollte den längst überfälligen Abbau manchen Vorurteiles über den „Prozeß des Jahrhunderts“ einleiten.

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Eine preiswerte Ausgabe der Nürnberger Prozeß-Protokolle könnte und sollte den längst überfälligen Abbau manchen Vorurteiles über den „Prozeß des Jahrhunderts“ einleiten.

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Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg zu Ende; schon ein halbes Jahr später, am 20. November, begann der Nürnberger Prozeß.

Er war ein unerhörtes Ereignis: Der Versuch, die Schuld an Krieg und Völkermord, Ereignissen, die in Europa 55 Millionen Menschen das Leben gekostet hatten, juristisch zu fassen.

Der Zufall hatte zwischen den Trümmern der Altstadt von Nürnberg, zwischen Schuttbergen und notdürftig „bewohnbar“ gemachten Ruinen, ein großes Gerichtsgebäude die Bombenangriffe einigermaßen unbeschädigt überstehen lassen. Diesem Zufall verdankt es Nürnberg, für alle Zeiten mit einem Prozeß in Verbindung gebracht zu werden, auf dem ein Tabu lastet.

Kein US-Präsident wird gern an den Nürnberger Prozeß erinnert, denn er rührt an das Vietnam-Trauma. Ganz am Anfang des Prozesses hatte der amerikanische Hauptankläger Jackson erklärt, nach den in Nürnberg angewendeten Prinzipien würden in Zukunft auch die Taten der Siegermächte beurteilt werden. Parallelen etwa zwischen dem in Nürnberg gehängten Generaloberst Alfred Jodl und Amerikas Vietnam-General Westmoreland drängen sich auf.

Englischen und französischen Staatsmännern liegt der Anklagepunkt „Verbrechen gegen den Frieden“ im Magen, seit sie 1956 gemeinsam im Nahen Osten einen

Angriffskrieg führten: den Suez-Krieg.

Stalin, der keinen Prozeß, sondern eine Erschießungsaktion befürwortet hatte, wurde in Nürnberg mit dem sowjetischen Massenmord an Tausenden polnischen Offizieren in Katyn konfrontiert.

In der Bundesrepublik Deutschland empfanden viele die Verurteilung deutscher Politiker durch alliierte Richter als „Schmach“, und das offizielle Deutschland vermied es, solche Gefühle zu verletzen.

So wurde das Feld den „Nationalen“ überlassen. Für sie ist der Nürnberger Prozeß ein um so größeres Fressen, je weniger seriöse Information zum Thema geboten wird.

Immerhin kann sich neuerdings jeder an historischer Objektivität statt an Legenden Interessierte über den „Prozeß des Jahrhunderts“ informieren — fast, als wäre er dabeigewesen. Die vollständigen Verhandlungsprotokolle in der offiziellen deutschen Fassung liegen seit kurzem als schwere, aber preiswerte Taschenbuch-Ausgabe vor.

Ganz „lesen“ kann das kaum einer. Man kann aber, in diesen Bänden blätternd, Teile lesend, sich der Dramatik des Wort für Wort festgehaltenen Geschehens nicht entziehen.

Der Nürnberger Prozeß war ein straff geführter Prozeß, in dem zwar den 21 anwesenden Angeklagten ausgiebig Redezeit zugestanden wurde, das Gericht, aber keine Ablenkungsversuche zuließ und, wo immer möglich, das Tempo forcierte. Dadurch wirken die Protokolle der 218 Verhandlungstage knapp, konzentriert und dramatisch.

Schweigende Richter

Hoffentlich führen die Publikation des Münchner Delphin-Verlages und der bevorstehende 40. Jahrestag der Prozeß-Eröffnung zu einem neuen Nachdenken über den Nürnberger Prozeß. Die Zahl der einseitigen, schiefen Darstellungen ist beachtlich. Auch Autoren mit bekannten Namen haben der Erwartungshaltung ihrer Leser entsprochen und einen Prozeß verteufelt, der - wovon man sich anhand der Protokolle überzeugen kann — besser war als sein Ruf.

In vielen Büchern ist zum Beispiel von den Beschränkungen die Rede, denen die Verteidiger unterworfen waren. Tatsächlich waren sie, zum Beispiel bei der Suche nach Zeugen, vom Wohlwollen der alliierten Militärbehörden abhängig, zu denen die Ankläger mit ihren Stäben einen kurzen Draht hatten.

Während des Prozesses konnte niemand absehen, ob die Richter überhaupt zur Kenntnis nahmen, was die Verteidiger vorbrachten. Entsprechend den Modalitäten des angelsächsischen Verfahrens, nach denen der Prozeß abgewik-kelt wurde, trugen die Richter Po-kerface zur Schau. Der britische Vorsitzende, Lordrichter Lawrence, leitete das Verfahren wortkarg und effizient, seine drei Kollegen, der amerikanische, der französische und der sowjetische Richter, und die vier Ersatzleute hörten, aber sprachen nicht.

Erst als die Urteile verkündet wurden, konnte man erkennen, was zu diesem Zeitpunkt die Welt gar nicht mehr so sehr interessierte, weil der Kalte Krieg begonnen hatte und alles überschattete:

Drei dieser vier Richter hatten im großen und ganzen mit ihrer Stimmenmehrheit, gegen die sich das sowjetische Mitglied des Tribunals nicht durchsetzen konnte, weder eine politische noch eine Rachejustiz geübt und ein hohes Maß richterlicher Unabhängigkeit bewiesen.

Seit 40 Jahren kreist die Diskussion über den Nürnberger Prozeß um das Problem rückwirkenden Rechts, verbohren sich die Kritiker eines Prozesses, der aus den oben erwähnten Gründen keine Verteidiger findet, in Vorwürfe wie „Siegerjustiz“, „Rachejustiz“, „politische Justiz“.

Weil die Ankläger redeten und die Richter schwiegen, entging der Welt, daß drei der vier schweigenden Männer am Richtertisch ihre Aufgabe anders sahen als die „Väter des Prozesses“.

Der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson hatte bei der Vorbereitung das große Wort geführt, auch die anderen Ankläger hatten zum Teil führend bei der Formulierung des für das Tribunal geltenden Statuts mitgewirkt.

Dieses Statut enthielt vier Anklagepunkte und gab dem Tribunal volle Souveränität.

Anklagepunkt Eins - „Verschwörung“ — war dem US-Recht entnommen und gab den Richtern die Möglichkeit, jeden Angeklagten zu verurteilen, dem nichts anderes bewiesen werden konnte, als daß er mit den anderen Naziführern eines Sinnes gewesen war. Dieser Paragraph verkörperte sozusagen das Seeräuberprinzip „Mitgefangen, Mitgehangen“.

Anklagepunkt Zwei betraf „Verbrechen gegen den Frieden“ (Planung eines Angriffskrieges).

Anklagepunkt Drei betraf Kriegsverbrechen, Anklagepunkt Vier Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die ersten beiden Punkte erfaßten politische Delikte rückwirkend, die anderen beiden aber Tötungsdelikte, die jedes Strafgesetz der Welt unter Sanktion stellt.

Nach den Nürnberger Urteilen, und zwar sofort nachher, verbiß sich die Diskussion in die historisch und rechtsphilosophisch so „dankbare“ Materie der ersten beiden Paragraphen.

Was nicht zur Kenntnis genommen wurde, weil es den Verteuflern nicht ins Zerrbild paßte, auf das sie die Wirklichkeit reduzierten: Drei prominente altgediente

Juristen, die in Jahrzehnten die Grundsätze ihres Berufes verin-nerlicht hatten, machten sich nicht zu Werkzeugen, sondern gründeten ihre Urteile im wesentlichen auf den Mordparagraphen jedes Strafgesetzbuches der Welt.

Sämtliche 12 Todesurteile (gegen Bormann in Abwesenheit, Göring beging Selbstmord, 10 wurden vollstreckt) basieren - allein oder auch - auf Schuldsprüchen nach den Anklagepunkten Drei und/oder Vier. In Nürnberg wurde keiner aufgehängt, dem nicht persönliche Verantwortung oder Mitverantwortung für Massenmorde nachgewiesen worden war. (Ein Hingerichteter hatte sich allerdings „nur“ durch Mordhetze schuldig gemacht, mitschuldig am Tod von Millionen: Julius Streicher, Herausgeber des antisemitischen „Stürmer“.)

Nur ein einziger wurde überhaupt verurteilt, ohne des Mordes schuldig befunden worden zu sein: Rudolf Heß. Was bisher über die Urteilsberatungen bekannt wurde, legt den Schluß nahe, daß das Lebenslang für Heß Ergebnis eines komplizierten Abstimmungs-Tauziehens war, in dem es den westlichen Tribunal-Mitgliedern primär um die Verhinderung des vom sowjetischen Richter geforderten Todesurteils ging.

Anklagepunkt Eins wurde nicht benützt, um irgend jemandem einen Strick zu drehen, was sehr leicht gewesen wäre. Schuldsprüche nach diesem Paragraphen kamen nur in Verbindung mit solchen nach Punkt Zwei vor und hatten offensichtlich in keinem Fall Einfluß auf das Strafmaß.

Daß ausgerechnet Heß als einziger noch sitzt, ist ein Hauptgrund für die Schwierigkeit, dem

„Prozeß des Jahrhunderts“ in der öffentlichen Meinung zu einem besseren Image zu verhelfen. Er hätte es verdient, denn er wurde fair geführt, die Urteile wurden mindestens so verantwortungsbewußt gefällt und waren mindestens so gerecht wie die vielen Urteile im Rechtsalltag aller europäischen Demokratien, und eine bessere Alternative zu diesem „Militärtribunal“ gab es nicht.

Ein Weltgericht der Neutralen? Kein neutrales Land wollte diese Materie anrühren. Ein deutsches Gericht? Wer hätte in diesem besiegten Deutschland ohne Souveränität über die Kriegsverbrecher zu Gericht sitzen sollen? Vielleicht deutsche Emigranten? Ein psychologischer Alptraum!

Jacksons Worte, in Nürnberg werde nach den Sternen eines neuen Völkerrechtes gegriffen und am Maß von Nürnberg würden künftig auch die Handlungen der Sieger des Zweiten Weltkrieges zu beurteilen sein, hallen nach - über vier und vermutlich weitere Jahrzehnte hinweg: Mahnung— und Ärgernis.

DER PROZESS GEGEN DIE HAUPTKRIEGSVERBRECHER VOR DEM INTERNATIONALEN MILITARGERICHTSHOF, Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache. Fotomechanischer Nachdruck im Delphin Verlag, München 1984. 23 in 12 Bänden, Ein-fuhrungsband, 15.444 Seiten, Kassette. Tb.. öS 1.554,40.

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