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„... Getue wegen gebrochener Verträge?“

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20. November 1945, Die Altstadt von Nürnberg ein Trümmerhaufen, der Marktplatz ein Chaos von Steinen und Ziegeln, windschiefe Buden als Wetterschutz über den Eingängen zu den ehemaligen Luftschutzkellern, in denen jetzt ein großer Teil der Bevölkerung haust. Hunger, Elend, stehlende und bettelnde Kinder. Wie überall in Deutschland. Rund um den Justizpalast amerikanische Wachen. Panzer an allen vier Ecken des weitläufigen Gebäudes. Militärpolizisten, Ausweiskontrollen, Taschenkontrollen. Wer keinen Passierschein hat, kommt nicht einmal in die Nähe des Gerichtes.

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20. November 1945, Die Altstadt von Nürnberg ein Trümmerhaufen, der Marktplatz ein Chaos von Steinen und Ziegeln, windschiefe Buden als Wetterschutz über den Eingängen zu den ehemaligen Luftschutzkellern, in denen jetzt ein großer Teil der Bevölkerung haust. Hunger, Elend, stehlende und bettelnde Kinder. Wie überall in Deutschland. Rund um den Justizpalast amerikanische Wachen. Panzer an allen vier Ecken des weitläufigen Gebäudes. Militärpolizisten, Ausweiskontrollen, Taschenkontrollen. Wer keinen Passierschein hat, kommt nicht einmal in die Nähe des Gerichtes.

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Der ständige Sitz des internationalen Militärtribunals ist Berlin, aber der Prozeß findet in Nürnberg statt. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil der Justizpalast in Nürnberg das geeignetste unter den vom Krieg verschont gebliebenen Gerichtsgebäuden war.

Im großen Saal das Gesumm hun-derter Stimmen. Neonlicht. 22 zusätzliche Scheinwerfer tauchen Anklagebank und Richtertisch in blendend helles Licht. Uniformen. Die Simultandolmetscher hinter einem gläsernen Verschlag in der Ecke. Vor jedem Platz Kopfhörer und eine Vorrichtung, mit der man nach Belieben unter den vier offiziellen Sprachen wählen kann: Englisch, Französisch, Russisch — und Deutsch.

Auf der Pressetribüne mit ihren genau 250 Plätzen weiße Gesichter, schwarze Gesichter, braune Gesichter. Berichterstatter aus fast allen Ländern der Erde. Prominente Gesichter: John Dos Passos. Erich Kästner. Dieser ist einer der insgesamt fünf zum Prozeß zugelassenen deutschen Journalisten. Unter der Decke des Saales hängen die winzigen Kabinen der Rundfunkreporter.

Mikrofone auf dem Zeugenstand, auf dem Vortragspult und auf dem Richtertisch. Ferner gelbe und rote Signallampen. Gelb bedeutet: „Langsamer sprachen, -Dolmetscher kommt nicht nach!“ Rot bedeutet: „Halt, technische Störung!“ Monteure mit Werkzeugtaschen stehen bereit, um sich bei Defekten wie Berserker auf die streikende Anlage zu stürzen, damit möglichst wenig Zeit verloren wird.

So eng wie möglich aneinander gerückt die Tische und die Sessel der deutschen Verteidiger, der allüerten Ankläger, ihrer Assistenten und Hilfskräfte, und der Protokollführer, die zum Teil bereits moderne, leise Stenografiergeräte benützen, zum Teil noch mit dem Bleistift arbeiten. Der Raum ist außerordentlich knapp.

Alle Angeklagten bis auf zwei sitzen auf den beiden langen hölzernen Bänken. Kaltenbrunner muß wegen einer leichten Gehirnblutung im Gefängnis bleiben. Dr. Robert Ley ist tot. Er hat in der Untersuchungshaft phantastische Pläne entwickelt und in einer Denkschrift niedergelegt. Deutschland, meint er, soll ein Teil der Vereinigten Staaten werden, Amerika seine führende Rolle unter den Völkern mit Hilfe eines „vom Antisemitismus gereinigten Nationalsozialismus“ sicherstellen, Ley schlägt vor, ihn mit der Durchführung zu betrauen. Da die Amerikaner nur mitleidig lächeln, bewirbt er sich sodann in einem Brief an Henry Ford um einen Posten in der amerikanischen Automobilindustrie, den er antreten möchte, „sobald der Prozeß vorüber ist“. Erst die Anklageschrift raubt ihm alle' Illusionen. Unermüdlich wandert er in der Zelle auf und ab. In der Anklageschrift wird ihm vorgeworfen, bei der Verschleppung von Millionen Arbeitssklaven aus ganz Europa keine Milde und keine humanitären Bedenken gekannt zu haben.

Gefängnisdirektor Oberst Andrews hat alle denkbaren Vorkehrungen gegen Selbstmorde getroffen. Die Häftlinge haben keine Schnürriemen, keine Glassachen, keine Messer oder Rasierklingen. Es gibt keine erreichbaren Lichtleitungen in den Zellen und nichts, woran man sich aufhängen könnte.

Ley findet trotzdem einen Weg. „Warum schlafen Sie nicht?“ fragt ihn eines Abends der Posten, der von Zeit zu Zeit durch das viereckige Guckloch in die Zelle schaut. Ley: „Schlafen? Sie lassen mich nicht schlafen ... Millionen Fremdarbeiter ..millions of jews, Millionen Juden ..Wenige Minuten später ist er tot. Erhänge mit den zu einem“ Strick zusammengeknoteten und art Wasserrohr der Toilette befestigten Säumen. Andere Quellen sprechen vom Reißverschluß seiner Jacke als Strick und vom Spülhebel als Befestigungspunkt. Ley hat sich mit den Fetzen seiner Wäsche geknebelt, um nicht durch sein Röcheln die Wachen zu alarmieren. Auf einem Zettel steht, er habe die Schande nicht länger ertragen können. Göring quittiert die Meldung mit den Worten: „Gut, daß er tot ist, er hätte uns sowieso nur blamiert. Er war immer schon etwas komisch und hat so bombastische Reden gehalten. Na, ich bin nicht weiter erstaunt. Normalerweise hätte er sich eben zu Tode gesoffen.“ Auch die anderen, außer Streicher, zeigen Erleichterung.

20. November, 10.30 Uhr. Ein Ruf des amerikanischen Gerichtsmarschalls, sofort in drei Sprachen übersetzt. Alles erhebt sich. Acht Männer betreten den Saal — die Richter mit ihren Stellvertretern. Sechs in schwarzen Talaren, zwei in sowjetischer Uniform. Allen voran der Vorsitzende, den sie aus ihrer Mitte gewählt haben, Lordrichter Sir Geoffrey Lawrence, ein glatzköpfiger Brite, ein Mann von Strenge, Fairneß und trockenem Humor. Er wird niemals in den kommenden 218 Verhandlungstagen den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen, daß er es ist, der in diesem Saal bestimmt.

Die Angeklagten von Nürnberg können während des ganzen Prozesses den Männern, die ihnen das Urteil sprechen werden, direkt in die Augen sehen. Der Richtertisch steht auf der anderen Seite des Saales, der ebenfalls leicht erhöhten Anklagebank gegenüber, auf einem Podium. Hinter den Richtern, zwischen den verhängten Fenstern, die Flaggen der vier im Tribunal vertretenen Nationen.

Görings Blicke treffen die der beiden vom Saal aus gesehen ganz rechts sitzenden Richter. Ganz außen der französische Ersatzmann, Robert Falco, der fast immer verbindlich lächelt, neben ihm der französische Richter, Henri Donnedieu de Fabres, ein alter Mann mit schütterem Haar und mächtigem Schnauzbart. Dann die Amerikaner, stellvertretender Richter John Parker, dessen rundliches Gesicht durch eine randlose Brille kälter und unpersönlicher erscheint, als es ist, und Richter Francis Biddle, ein Mann in den besten Jahren mit einem gepflegten Bärt-chen. Neben Biddle der Vorsitzende, Lawrence, und dessen Stellvertreter Sir Norman Birkett, dem die Haare immer wieder über die Stirne fallen. Ganz links die Russen, die statt der Roben Uniformen tragen. Iola Nikitschenko, Generalmajor der Justiz. Streng, mit einem Mund, der einem schmalen Strich gleicht, und am äußersten Ende des Tisches sein Stellvertreter, Oberstleutnant Alexander Wolchkow, mit kräftigen Lippen und gewelltem Haar.

Die sowjetischen Richter haben Streicher, Funk und Schacht vor sich, also sozusagen das unterste Ende der Anklagebank. Göring, der wichtigste Angeklagte, sitzt ganz links in der ersten Reihe, noch, immer ein massiger Mann, aber deutlich abgemagert, und nach einer Entziehungskur gesünder denn je. Neben ihm, von links nach rechts: Rudolf Hess, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner, der allerdings nur zeitweise in der Anklagebank“ anwesend ist, „Parteiphilosoph“ Rosenberg, Hans Frank, der ehemalige Innenminister Wilhelm Frick, Julius Streicher, Wirtschaftsminister Walther Funk und Hjalmar Schacht.

Die zweite Reihe beginnt mit Karl Dönitz, der genau-hinter Göring sitzt, es folgen Großadmiral a. D. Erich Raeder, Baidur von Schirach, der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Franz von Papen, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer, Konstantin von Neurath und Hans Fritzsche.

Göring trägt Stiefel und eine seiner hellen Uniformen, die offensichtlich notdürftig seinen neuen Körpermaßen angepaßt wurde. Selbstverständlich ohne Orden und Abzeichen. Auch von der dunkelblauen Admi-ralsuniform Dönitz' wurden, ebenso wie von den Waffenröcken der Angeklagten Keitel und Jodl, alle Rangabzeichen entfernt. Heß und Streicher tragen oft helle, die meisten anderen Angeklagten dunkle Zivilanzüge, aus der Brusttasche des noch immer eleganten Papen, der auf korrektes Auftreten Wert legt, lugt ein weißes Stecktuch.

Hinter und neben der Anklagebank: Amerikanische Militärpolizisten mit weißen Koppeln und weißen Helmen und mit Gesichtern, von denen man ablesen kann, daß sie sich ihrer Wichtigkeit bewußt sind. Die Wände des Saales sind mit dunklem Holz getäfelt, und über dem Marmor des reichverzierten Barockportals, durch das die Angeklagten zweimal täglich in den Saal und wieder herausgeführt werden, flankieren MamorJünglinge ein mächtiges marmornes Wappenschild. Beim Hinausgehen streift der Blick das von Schlangen umgebene Haupt der Medusa. •

Verlesung der Anklageschrift. Die Angeklagten kennen ihren Inhalt längst. Göring, der seinem deutschen Gefängnisarzt Dr. Pflücker geschildert hat, wie er den Saal in großer Pose betreten und den Feinden seine Anklage ins Gesicht schleudern werde, sitzt still in seiner Ecke, beide Arme auf der hölzernen Brüstung, das Kinn auf der rechten Hand. Fritzsche und Frick lesen in ihren Exemplaren der Anklageschrift mit.

Keitel starrt mit verschränkten Armen geradeaus. Einige haben die Kopfhörer aufgesetzt und probieren verschiedene Ubersetzungen aus. Einige mustern diskret die Richter, die Vertreter der Anklage, die Berichterstatter. Rudolf Heß liest ostentativ in einem Buch mit dem Titel t,Der Loisl“. Er interessiert sich weder für die Ankläger noch für die Richter und beginnt bei seiner Lektüre plötzlich hellauf zu lachen. “Später klagt er über Magenkrämpfe und bekommt die Erlaubnis, in seine Zelle zurückzugehen.

Mittagspause. Die Gefangenen essen im Gerichtsgebäude. Einige von ihnen können sich zum ersten Mal seit ihrer Verhaftung wieder ungehindert, wenn auch unter Bewachung, unterhalten. Einige von ihnen haben sich bis zu diesem Tag überhaupt kaum gekannt. Der amerikanische Gerichtspsychologe Gilbert besucht die Gefangenen nicht nur regelmäßig in ihren Zellen, sondern notiert auch, worüber sie während der Mahlzeiten miteinander sprechen. Sein „Nürnberger Tagebuch“ ist eine wertvolle zeitgeschichtliche Quelle: es registriert die Reaktionen der Angeklagten. Zum Teil äußerst aufschlußreiche Reaktionen. Einer der Verurteilten, Albert Speer, bestätigte dem Verfasser in einem Gespräch die Korrektheit der Gilbert-schen Aufzeichnungen.

„Wozu dieses ganze Getue wegen gebrochener Verträge?“ sagt Ribbentrop zu Gilbert. „Haben Sie je die Geschichte des Britischen Empire gelesen? Nun, es wimmelt nur so von gebrochenen Verträgen, Unterdrük-kung von Minderheiten, Massenmord, Angriffskrieg und allem übrigen.“

Ob die Verbrechen der Vergangenheit das anerkannte Vorbild für das internationale Recht sein sollten, will Gilbert wissen. „Das nicht“, sagt Ribbentrop, „aber ich dachte, die Völker werden zukünftig sowieso ihre Meinungsverschiedenheiten friedlich regeln, da ein-Krieg durch die Atombombe zu gefährlich geworden ist.“

Schirach erklärt, das Essen werde von Tag zu Tag besser: „Ich nehme an, wir bekommen am Tag, wo ihr uns aufhängt, Steaks.“

Streicher, von seinen Mitangeklagten geflissentlich übersehen, erzählt dem Psychologen, er sei in genau diesem Saal schon einmal verurteilt worden: „Ich hab' schon viele Prozesse hinter mir. Das sind alte Kamellen!“

Am Nachmittag, während von Massenhinrichtungen und Grausamkeiten die Rede ist, erleidet Ribbentrop einen Schwächeanfall. Auch er wird in seine Zelle zurückgebracht.

Am folgenden Tag treten sie dann einzeln vor das Mikrophon, um sich „schuldig“ oder „nicht schuldig“ zu bekennen. Göring: „Bevor ich die Frage des Hohen Gerichtshofes beantworte, ob ich mich schuldig oder nicht schuldig bekenne ...“ Aber er wird unterbrochen. Jetzt keine weitläufigen Erklärungen! Göring: „Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig.“ Göring wird später noch sehr viel Redezeit zugebilligt bekommen. Nicht weniger als insgesamt neun volle Tage.

Fritzsche: „Dieser Anklage gegenüber nicht schuldig!“ — Schacht: „Ich bin in keiner 'Weise schuldig!“ — Papen: „Keinesfalls schuldig!“ — Heß: „Nein!“ (Der Vorsitzende: „Dies wird als .nicht schuldig' protokolliert!“) Jodl: „Nicht schuldig. Was ich getan habe und auch tun mußte, kann ich reinen Gewissens vor Gott, vor der Geschichte und meinem Volke verantworten.“ Sauckel: „Ich bekenne mich im Sinne der Anklage vor Gott und der Welt und vor allem vor meinem Volke nicht schuldig.“ Die übrigen: „Nicht schuldig!“ oder „nicht schuldig im Sinne der Anklage“

. v.Vi.s....'.iniiai9J Unmittelbar, nachdem sie sich für nicht schuldig erklärt haben, tritt der amerikanische Hauptankläger Jackson zu seiner großen Eröffnungsansprache an das Pult mit dem Mikrophon. Die Männer auf der Anklagebank hören gespannt zu und mustern Jackson hellwach und aufmerksam, während sie die Ubersetzung seiner Rede durch die Kopfhörer übermittelt bekommen. Diesen Mann, seine Methodik, seine Wirkung auf die Richter und seine schwachen Punkte so schnell wie möglich kennenzulernen, kann für sie lebenswichtig sein.

Und sie mustern auch die übrigen Haupt- und Nebenankläger und suchen sich ein Bild von ihnen zu machen. Zwischen den Tischen der Ankläger ist kaum genug Platz für die Sessel, sie sitzen gedrängt, und sie sitzen so, daß sie jederzeit sowohl die Angeklagten und deren Verteidiger als auch das Gericht überblik-ken können. Jeweils ganz vorne, so daß sie augenblicklich aufspringen und zum Mikrophon eilen können: die Hauptankläger.

Der Tisch der sowjetischen Delegation ist keine zwei Meter von der Schmalseite der Anklagebank mit Göring und Dönitz an der Flanke entfernt. Halb den Angeklagten, halb den Richtern zugewandt: ein Mann, der den Kopf mit der Hand zu stützen pflegt, wenn er längeren Reden lauscht — er i$t ein äußerst konzentrierter Zuhörer, der sich nichts entgehen läßt. Er hat ein ovales, eher joviales Gesicht und schütteres Haar, das hoch über einer mächtigen Stirn beginnt. Er trägt eine dunkle Uniform mit breiten, hellen Achselspangen, dazu eine korrekt mit langem Knoten gebundene Krawatte und eine schmale Ordensspange auf der Brust. Sein Name: Roman A. Ru-denko, Generalleutnant, Hauptanklagevertreter der Sowjetunion in Nürnberg. Die Angeklagten sehen sich diesen Mann genauestens an. Mit ihm gedenken einige von ihnen einen harten Strauß auszufechten, ihm gegenüber rechnen sie sich gute Verteidigungs-, ja Angriffschancen aus. Tatsächlich werden sie ihm mehr als eine arge Schlappe zufügen.

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