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Kainszeichen fürs Leben

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Die Beratungen für ein neues Jugendgerichtsgesetz schleppen sich dahin. Eigentlich wurden sie noch nicht einmal richtig aufgenommen. Tausende Jugendliche kommen daher weiter unter die Räder.

Jährlich werden 20.000 Jugendliche den Gerichten angezeigt, rund 8.500 werden davon verurteilt, nur ein geringer Teil wegen schwerer Delikte, die anderen sind meist Bagatelldelikte.

Niemand will bagatellisieren: Jedes Delikt ist eines zuviel. Niemand will verharmlosen, aber alle müssen sich den Kopf darüber zerbrechen, welche Maßnahmen als Reaktion auf diese Delikte von Jugendlichen sinnvoll sind. Sinnvoll sowohl für die straffällig Gewordenen, sinnvoll auch für die Gesellschaft.

Ist es wirklich sinnvoll, daß drei Lehrlinge (ihnen war in der Mittagspause „fad“, sie veranstalteten eine Mutprobe, wobei einer sich getraute, aus einem Geschäft

— dabei ertappt — zwei Flaschen Wein zu stehlen) vor ein Schöffengericht (zwei Laienrichter, zwei Berufsrichter, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger) kommen, dort verurteilt werden, die Lehre verlieren und einer noch dazu sein Zuhause, weil er ein „Verbrecher“ ist?

So sieht die Masse der Jugendkriminalität aus.

Aber rein statistisches Material sagt noch nichts aus. Man muß bedenken, welchen Stellenwert die erste Straftat eines Menschen in dessen Leben einnimmt.

Oft werden Jugendliche — als Verdächtige vorerst — von der Polizei vom Arbeitsplatz geholt, meist gleichbedeutend mit dessen Verlust. Erst 14jährige Kinder werden von der Polizei allein einvernommen, ohne die Möglichkeit, eine Person des Vertrauens mitnehmen zu können.

Sie unterschreiben ein Protokoll, das sie nicht verstehen. Bei ungezählten Nebensächlichkeiten des Alltags bedarf es der Unterschrift des Erziehungsberechtigten.

Dann kommt das qualvolle — monatelange — Warten auf die Verhandlung. Häufig stellen sich psychosomatische Störungen ein, nicht selten kommt es in Panik zum Ausreißen und zu neuerlichen Straftaten.

Dann kommt es zur — pompöse#i

— Verhandlung. Die meisten Jugendlichen stammen aus tristen Familienverhältnissen, sind meist abgelehnte, in Heime oder sonst wohin ausgestoßene, geschlagene (sie sind jene Gruppe von Kindern, die am öftesten regelmäßig geschlagen werden) Kinder. Und jetzt wird ihnen offiziell bestätigt, daß sie nicht nur dumm und unnütz sind, das haben sie von ihren Eltern auch immer gehört, sondern daß sie so schlecht sind, um auch von der Gesellschaft ausgestoßen zu werden. Selbst bei einem Freispruch bleibt da etwas hängen.

Die juristischen Spitzfindigkeiten verstehen sie nicht. Wie soll denn eine Sonderschülerin begreifen, daß sie strafbar wurde, weil sie eine Einladung ihrer Eltern - sie kam aus dem Heim zu Besuch—zum Mittagessen befolgte, aber das Huhn gestohlen war? Es war Hehlerei.

Und erst die Folgen einer solchen Verurteilung! Falls der Täter eine Lehrstelle hat oder in die Schule geht, werden Lehrherr oder Schule benachrichtigt. Das heißt: Verlust des Arbeitsplatzes, Hinauswurf aus der Schule. Das Leben ist verpfuscht.

Nicht nur das: Zum inneren Kainszeichen („Ich bin ein Verbrecher“) kommt das äußere Kainsmal dazu. Im Leumundszeugnis scheint jede Vorstrafe auf, die mehr als ein Monat beträgt. Das heißt: Keine Chance, beispielsweise im öffentlichen Dienst unterzukommen, unwürdig damit sogar für die Arbeit als Straßenkehrer oder Kanalräumer. Ist das sinnvoll?

Jeder Tag Haft ist für den Jugendlichen eine Katastrophe. Ich erinnere mich an einen Probanden, der wochenlang in der Ecke eines Zimmers kauerte und sich nicht auf die Straße getraute, weil er drei Wochen „eingesperrt“ war.

Die meisten finden nur sehr schwer wieder Anschluß, wobei ihnen das Leumundszeugnis, ein „Dokument der Unversöhnlich-keit“ unserer Gesellschaft nach verbüßter Haft, viele Möglichkeiten versperrt.

Auf Grund unserer Erfahrungen in Schulen - Bewährungshelfer diskutieren vermehrt heute mit Kindern und Jugendlichen Fragen der Jugendkriminalität -wissen wir, daß die Jugendlichen auf diesem Gebiet völlig unwissend sind.

Sie wissen nicht, was Strafmün-digkeit ist und bedeutet, wissen nicht einmal, daß es Urkundenfälschung ist, wenn auf einem Kinderfahrschein der Stempel ausradiert wird. Wie sollen sie dann wissen, daß man sogar verurteilt werden kann, wenn man nicht selbst radiert, sondern „nur“ dabeigewesen ist?

Eigentlich sind sich alle einig, Fachleute, Jugendrichter, Staatsanwälte und Bewährungshelfer, daß dieses Strafen nichts hilft. Eigentlich zweifeln alle daran, daß sich so Jugendkriminalität bekämpfen läßt.

Daher: Wir brauchen ein neues Jugendgerichtsgesetz - und das rasch. Damit nicht noch mehr junge Leben verpfuscht werden: Denn jährlich werden 20.000 Jugendliche den Gerichten angezeigt ...

Der Autor ist Bewährungshelfer in Wien.

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