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Jugendkriminalität und Gesellschaft

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In unserer Jugend sind während des letzten Jahrzehnts Verwüstungen angerichtet worden, welche die werktätige Sorge unseres ganzen Volkes auf sich lenken müssen. Die nachsteh enden Ausführungen begleiten statistische Aufstellungen aus dem Sprengel des Jugendgerichtshofes Wien, dessen örtlicher Bereich etwa 40 Prozent der österreidiischen Jugend erfaßt. So manche Schlüsse, die aus diesen Ziffern gezogen werden können, darf man wohl mit Recht als symptomatisch für weithin bestehende Zustände in unserem Lande werten. Die Ursachen der wahrhaft erschütternden Ergebnisse? Sie sind wiederholt schon von berufenen Freunden der Jugend erörtert worden und sollen hier nur kurz zusammengefaßt werden. Als wesentliche Momente der gesteigerten Kriminalität unter unseren Jugendlidien wird immer wieder die Umwertung vieler Begriffe und eherner Grundsätze erkannt, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Vor allem die bewußte Vlinderwertung fremder Rechtsgüter. Sie hatte maßgebenden Einfluß auf die Störung ethischer Grundlagen. Es ging an der Jugend nidit spurlos vorüber, daß die Begriffe von Freiheit, Menschenwürde, Unantastbar-i:eit der Person, Ehre, Eigentum, Religion, Leben immer wiederum verächtlich gemadit, mmer wiederum angegriffen werden konnten und diese Verletzungen fast immer ■ traflos bliebe«. Dazu noch die Glorifizie-i ung des Unrechts, das Herausstellen eines uliigen Heldentums und der Ohnmadn des Aechtes gegen die Gewalt. Jahrelang fehlte dieser von solchen Erscheinungen umgebenen Jugend die Stütze einer sittlichen Erziehung, nicht nur in der Schule, sondern auch im Elternhaus, wo die Autorität des zu irgendwelchen Kriegsdiensten einberufenen Vaters fehlte. So zeigte sich, daß auch eine größere Anzahl von Jugendlichen aus Familienkreisen, in denen das verflossene System abgelehnt worden war, trotzdem straffällig wurde, weil sie niemand vor dem allgemeinen Verfall ewiger Reditsbegriffe bewahrte. Dann kamen die Ereignisse des April und Mai 1945, der Zusammenbruch, das Chaos, die Plünderungen, die erschreckenden Übergriffe aller Art. Erwadi->ene Personen, auch solche, die bisher vor den jungen Mensdien Ansehen genossen hatten, begingen Handlungen, die bisher der junge Mensch als verboten angesehen hatte. Die Staatsgewalt war völlig ausgeschaltet, und üble Elemente nützten diese Notzeit aus, um ihrer Zügellosigkeit freien Lauf zu lassen. Mit Recht charakterisierte eine Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien diese Zustände mit der Feststellung: „Nicht Zweifel an den Rechtsbegriffen, sondern das Bewußtsein der unzureichenden oder fehlenden Staatsautorität sind die Triebfedern für sittlich nicht gefestigte Personen zur Außerachtlassung des die Ordnung sichernden Rechtes.“ Wie viele Jugendliehe mögen durch dieses Beispiel verleitet worden sein. —

Dann kam aber auch die Not und mit ihr die Flur- und Holzdiebstähle, Einbrüche in Lebensmittel-, Kleider- und Schuhgeschäfte. Vergnügungssucht, Arbeitsunlust derer, die merkten, daß man auch ohne Arbeit leben könne, sittliche Minderwertigkeit wurden zu weiteren Ursachen der Kriminalität und sind es heute noch. Ihre Wirkungen dürfen nicht unterschätzt werden, weil sie oft zu den schwersten Verbrechen hinführen. Ein Jugendlicher, der des Mordes angeklagt und dann auch dessentwegen verurteilt wurde, gab als Beweggrund seiner Tat an, er habe sich einfach Geld verschaffen wollen, weil er, gleich seinen Freunden, Ausgaben machen und Vergnügen genießen wolle. Der Schleichhandel und die Verlodcung Jugendlicher zur Anteilnahme tat ein übriges. Allerlei Ausländer, die die Nachkriegszeit im Lande zusammengeschwemmt hatte, benutzten mit Vorliebe Jugendliche als Strohmänner und wurden so selbst noch zu Verbrechern an der Jugend. Zweifellos hat auch die Vernachlässigung der religiösen Erziehung mitgewirkt an den traurigen Verfallserscheinungen.

Ein gerütteltes Maß von Schuld — dies sei einmal hier in aller Offenheit gesagt — liegt gegenüber der Jugend an den Erwachsenen. Auf wieviel Unverstand, Mißgunst, Hartherzigkeit, Egoismus ist diese Jugend bei vielen erwachsenen Personen gestoßen! Es hört sich sehr übel an, wenn so manche meinen, einfach über die Jugend den Stab brechen zu können, ohne sich selbst Rechenschaft zu geben, wieviel sie selber aktiv oder passiv durch ihr Beispiel beigetragen haben, in der Jugend die Vorstellung von Recht, Sittlichkeit und Ordnung zu verwischen. »

Im Nachstehenden ein Bild der Jugendkriminalität, soweit sich mit ihr der Jugend-geriditshof Wien zu befassen hatte. Um eine Abschätzungsgrundlage zu haben, ist es notwendig, sich die Ziffern des Jahres 193 7, also sozusagen des letzten normalen Jahres, vorzuhalten. Damals wurden im Sprengel des Jugendgerichtshofes Wien insgesamt 1205 Verbrechen, Vergehen und Übertretungen von Jugendlichen gerichtlich behandelt. Der Monatsdurchschnitt betrug rund 100. Unter dem Gesamtanfall von 1205 strafbaren Handlungen waren 6 Kapitalverbrechen, 1 des Mordes, 2 Verbrechen des Totschlages und 3 des Raubes. In 17 Fällen waren bis zu 5 Personen, in 18 Fällen 6 bis 10 Personen und in 4 über 10 Personen gemeinsame Täter; es handelte sich um kleinere und größere Diebsbanden von Jugendlichen. Interessant ist die Aufteilung der Liste gegen das Staatsschutzgesetz, wobei in erster Linie die Fälle bei Bekämpfung des Nationalsozialismus in Betracht kamen. In 3 Fällen waren hier 5 Mittäter, in 17 Fällen 6 bis 10 und in 14 Fällen über J0 Mittäter beteiligt. Die höchste Zahl der Mittäter betrug 23 wegen Vergehens gegen § 5 des Staatsschutzgesetzes Verurteilter. Die weitere Entwicklung zeigt:

1945:

Verbrechen Ober-Vergehen tretungen April und Mai . i»m.i 26 —

Juni . . . .i.i.i.i 45 —■

Juli 108 52

August . . -i.-k.-i. • 156 102

September ca.*. . 142 100

Oktober . .v.r.*.*.-.. 202 133

November ....... 146 112

Dezember ........ 148_120

~973 619

Gesamtanfall: 1595, Monatsdurchschnitt: 177.

Kapitalverbrechen: 7 Morde, beziehungsweise Mordversuche, 10 Verbrechen des Raubes.

1946:

Verbrechen Über-Vergehen tretungen

Jänner........ 225 139

Februar ....... 164 117

März ........ 212 118

April ........ 152 121

Mai........ . 144 136

Juni......... 146 101

Juli ......... 216 67

August ......v 203 204

September...... 180 182

Oktober....... 147 189

November...... 157 139

Dezember ...... 133 114

2079 1627

4-1627 ~37Ö6

Monatsdurchschnitt etwa 309.

An Kapitalverbrechen sind zu verzeichnen: 14 Morde, bez:ehungswe:se Mordversuche, 2 Verbrechen des Totschlages, 21 Verbrechen des Raubes.

1947:

Verbrechen Ober-Vergehen tretungen

Jänner........ 139 139

Februar ....... 129 124

März ........ 176 175

April ........ 176 181

Mai . ........ 130 181

Juni......... 176 166

Juli ......... 209 258

August, ....... 185 206

September ...... 219 195

Oktober....... 187 227

November...... 185 200

Dezember (einschließlich

15. Dezember) . . . 93_104_

200*4™ 2l“56 4- 2156

4160

Monatsdurchschnitt etwa 362. i Kapitalverbrechen: 4 Mo.de, beziehungsweise Mordversuche, 1 Verbrechen des Totschlages und 11 Verbrechen des Raubes.

1945: Mehrheit von Tätern:

5 6—10 über 10 Personen

April und Mai . — 2 —

Juni...... 3 5 —

Juli ...... 1 9 7

August..... 7 15 3

September ... 9 6 5

Oktober .... 7 ' 8 1

November ... 4 5 —

Dezember ... 6 1 —

Zusammen ... 37 51 16

Die Mittäterschaft war bei einer Mehrheit von 5 Personen in 38, bei 6 bis 10 Personen in 42 und bei über 10 Personen in 17 Fällen wegen Diebstahls gegeben.

Die höchste Zahl der Mittäter betrug 34 (Diebstahl).

1946: Mehrheit von Tätern:

5 6—10 über 10 Personen

Jänner..... 3 . 6 2

Februar .... 2 4 2

März ..... 6 3 3

April ..... 5 2 —

Mai...... 2 1 —

Juni...... 2 2 —

Juli ...... 1 5 —

August..... 2 6 1

September 1. . . 5 3 1

Oktober .... — 3 —

November ... 1 — —

Dezember ... 1 1 —

Zusammen ... 30 36 9

Die Mittäterschaft war bei der Mehrheit von 5 Personen in 25 Fällen, bei 6 bis 10

Personen in 25 Fällen und bei über 10 Personen in 9 Fällen wegen Diebstahls gegeben. Die höchste Zahl der Mittäter betrug 23 • (Diebstahl).

1947: Mehrheit von Tätern

5 6—10 über 10 Personen

Jänner .. t.i 4 3 —

Februar r.j 1 — —

Mar/. .... ii.i 1 — 1

April i. .i.j.'.i — 2 1

Mai ....■..! — 1 —

Juni ...... i 1 1 —

Juli _____,.^..1... 3 1 —

AugUSt . . - 3 —

September t.;.«o — t.

Oktober . ..... .i 2 1-

November l.k. m 2 1 —

Dezember i. ... —_1_2_

Zusammen t. . . 14 15 4

Die Mittäterschaft war bei einer Mehrheit von 5 Personen in 5, bei 6 bis 10 Personen in 6 und bei über 10 Personen in 1 Fall wegen Diebstahls gegeben.

Die höchste Zahl der Mittäter betrug 11 (Diebstahl).

Aus diesen Zusammenstellungen ergibt sich klar die Zunahme der Kriminalität. Bedenklich ist vor allem die starke Ausprägung der Tätermehrheit und die Höhe, namentlich in den letzten Jahren,' der Kapitalverbrechen. Diese Entwicklung zum Stillstand zu bringen, ist die vornehmste Aufgabe der Jugendstrafrechtspflege. Darüber hinaus muß es gelingen, eine rückläufige Bc ;ung bei der Begehung strafbarer Handlungen und als erstes Fernziel den Stand des Jahres 1937 zu erreichen. Ein Teilerfolg ist erzielt worden, der nicht unterschätzt werden soll: die rückläufige Bewegung ist bei den Kapitalverbrechen und beim Zusammenschluß mehrerer Personen zur Begehung gemeinsamer Straftaten eingetreten. Es ist zu hoffen, daß, aufbauend auf diesem Erfolg, trotz der allgemeinen Zunahme eine Wendung zum Besseren eintreten wird. Die Festigung und Beruhigung der äußeren und inneren Verhältnisse Österreichs wird ein starkes Nachlassen der Kriminalität mit sich bringen. Alle Kräfte für diesen Erfolg einzusetzen, ist Pflicht und Aufgabe aller an der Jugend interessierten Personen und Stellen.

Es ist nicht so schwer, Gutes an der Jugend zu tun. Jeder Tag hat dafür seine Möglichkeit, und auch an eines sei hier erinnert: die Jugendgerichtshöfe Wien, eine Stelle, die sich besonders mit der gefährdeten und straffälligen Jugend befaßt, braucht dringend Kräfte zur Durchführung ihrer Aufgaben. Bei der Übernahme von Schutzaufsichten und Vormundschaften bietet sich ein Kreis reichster Betätigung zur fürsorgerischen Arbeit an der Jugend. In diesen Rahmen fallen auch die Schutzaufsichten im übertragenen Wirkungskreis, die an einzelne religiöse Organisationen von der Jugendgerichtshilfe abgegeben werden.

Ein eigenes Kapitel bietet die Straf-fälligenbetreuung. Der haftentlassene junge Mensch stürzt oft in ein Gefühl der Verlassenheit und des Ausgestoßenseins, das ihn schwer zur Gesellschaft zurückfinden läßt. Oft sind daran Menschen seiner Umgebung in unverantwortlicher Weise mitschuldig. Jeder einzelne Mensch, mit dem ein Strafentlassener zusammentrifft, soll ihm einen Vertrauensvorschuß entgegenbringen, um ihn durch den Erweis zu ermuntern, daß die Gemeinschaft gewillt ist, seine Angelegenheit als abgetan zu betrachten. Sehr schmerzlich ist, daß gegenwärtig entsprechende Erziehungsanstalten für gefährdete Jugend nicht im ausreichenden Maße zur Verfügung stehen. Die Anstalt in Kaiserebersdorf, eine Bundeserziehungsanstalt für männliche Jugendliche, die unter ausgezeichneter Leitung früher 150 bis 160 Jugendliche vereinigte, ist durch Bombenschäden und Plünderungen nur für eine geringe Zahl Jugendlicher auf-nahmsfähig, ein Ausfall, der sehr schwer fühlbar ist. Die Anstalt erfreute sich über die Grenzen Österreichs hinaus eines hohen Rufes. Die Hirtenberger Anstalt iür weibliche Jugendliche ist von einer Be-satzungsmadit in Anspruch genommen. Damit sind alle Unterbringungsmöglichkeiten in staatliche Anstalten im Wiener Sprengel erschöpft.

Österreich besitzt ein ausgezeichnetes Tugendgerichtsgesetz vom Jahre 1928, und jeder Jugendrichter ist bestrebt, in jedem einzelnen Falle dem Charakter, der Veranlagung und den äußeren Lebensbedingungen des Jugendlichen, der als Angeklagter vor ihm steht, gerecht zu werden. Aber nicht von den Gerichten allein aus kann das Übel bekämpft werden, daran muß die ganze Gesellschaft mitwirken.

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