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Die schützenden Kräfte

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„Es hieße“, schrieb der deutsche Psychiater Robert Gaupp der Ältere, 1905, „sich den naheliegenden Erwägungen verschließen, wollte man bezweifeln, daß die Abnahme des religiösen Glaubens, vor allem des Glaubens an eine Auferstehung der einzelnen Persönlichkeit nach dem

Tode, für das Überhandnehmen des Selbstmordes von Bedeutung sei“. Und in dem letzten, 1940 erschienenen Werk des deutschen Psychiaters Hans Gruhle, sagt der Gelehrte in bezug auf den Selbstmord, daß „nur in kleineren Bezirken eine Rückführung der Selbstmordsterblichkeit auf Ursachen und Motive allenfalls möglich ist. In größeren Ländern überkreuzen sich die mehrenden und mindernden Einflüsse derart, daß eine Analyse kaum lohnend erscheint. Nur die hemmende Wirkung des Katholizismus, die steigernde des Protestantismus setzt sich überall durch“. Jeder, der, wie der Nervenarzt, mit selbstmordgefährdeten Personen viel in Berührung kommt, begegnet immer wieder der Grundeinstellung des katholischen Menschen gegen den Selbstmord. Sie ist von derartiger Macht, daß sie selbst bei dem durch Gemütskrankheit selbstmordgefähr-detsten Menschen , sich durchsetzen kann. Durch sie ist die Ansicht von Ungern-Sternbergs bewiesen, daß eine weltanschauliche Überzeugung das stärkste Bollwerk gegen Selbstmord darstellt.

Unter den selbstmordmindern-den Faktoren der katholischen Religion wirkt die erschwerte Ehe-

Ein Ziel müssen wir haben und einen Aufstieg und eine Macht, die uns trägt. Denn diese flache Ebene muß überflogen werden, diese Wüstenebene, in der die Seele verdurstete. Hoffnung muß in uns erblühen, die wahr ist und erhebend und stärkend. Das ist das Bedürfnis unserer Seele. Seine Stillung findet dieses Bedürfnis in der christlichen Hoffnung. Die christliche Hoffnung erschließt den weitesten Horizont. Sie überwindet die tiefsten Gegensätze. Sie ruht auf sicherstem Grunde. Der mächtige Arm trägt sie.

Michael Gierens: „Hoffnung, ein Bedürfnis und seine Stillung* („Stimmen der Zeit“, März 1921)

trenaung, das Prinzip der Unauflösbarkeit der katholischen Ehe. Wie gesagt, weisen die Geschiedenen die höchsten Selbstmordziffern auf. Sehr wichtigen Einfluß übt schließliqh die ablehnende Haltung der katholischen Kirche gegen die Fruchtabtreibung, eine Haltung, die auch gegen die künstliche Kinderlosigkeit gerichtet ist. Nach einer französischen Statistik betrug die Selbstmordziffer bei Ehefrauen ohne Kinder 221 und mit Kindern dagegen nur 79, bei Familienvätern ohne Kinder 664 undj mit Kindern dagegen nur 336. Enkellosjgkeit wird als eine der Hauptursachen' der Vereinsamung und damit der hohen Selbstmordquote der alten Leute angegeben. In acht bayrischen Regierungsbezirken fielen (nach Statistiken bis 1933) höchste Selbstmordziffern mit niedrigstem katholischen Bevölkerungsanteil und niedrigsten Geburtenziffern, andererseits niedrigste S e 1 b s t m o r d z i f f e r n mit hohem katholischem Bevölkerungsanteil und hoher Geburtenziffer zusammen.

Aus dem Gesagten läßt sich einiges für die Selbstmordverhütung ableiten. Zwischen1 katholischen und protestantischen Ländern ist ein bedeutender Unterschied der Selbstmordfrequenz bemerkbar, nicht aber in demselben Grade zwischen den katholischen und protestantischen Einwohnern desselben Landes. Darius läßt sich der Schluß ziehen, daß der soziale S'elbstmordschutz den individuellen noch übertifft. Das Wort des großen Seelenarztes Gonstantin von Monakow (1853 bis 1931) „Religion ist ein soziales Gut“, trifft für die Selbstmordverhütung zu, und sollte besonders in der heutigen Zeit sozialen Neuaufbaues Beachtung finden.

In zweiter Linie erscheint von Wichtigkeit, die Bindung des Menschen an seine Heimat. Di? im österreichischen Heimatgesetz von 1862 enthaltenen Rechte des unentziehbaren Wohnsitzes und des ungestörten Aufenthaltes, die in der politischen Epoche des seelenlosen und einfältigen f Rassismus außer Kraft gesetzt worden sind, müssen dem Menschen wieder als Voraussetzungen für den Kampf ums Dasein zukommen. Ohne sie kann keine Liebe zur Heimat entstehen und keine engere Bindung an Mitmenschen über den Kreis der Familie und Verwandtschaft hinaus und auch nicht das verpflichtende Bewußtsein, eingefügt zu sein in das Menschenleben zwischen Ahnen und Nachkommen. Nicht nur ein liebliches enges Tal in den Alpen, sondern auch ein Wiener Gemeindebezirk kann dem Menschen zur Heimat werden, an der er mit seinem I^-ben hängt. Alle Einrichtungen, die dem llenschen wieder die Heimat als festen Boden unter den Füßen und als ein Land der Liebe zurückgeben, gehören zur Se1bs t m ordvorbeugung im großen.

Die Verstädterung als sehr bedeutender selbstmordmehrender Faktor erfordert die Vorsorge, daß sie in Zukunft nicht auch das Flach- und Gebirgsland mit einschließt, daß nicht die Industrialisierung im Rahmen der fortschreitenden Zivilisation, die Höhe der Berge und die Enge der Täler überwindend, die „Selbstmordseuche“ bis zu den einsamsten Behausungen der Menschen verbreite. Als Maßnahme in den Städten selbst käme vor allem der Kampf gegen dieVettrautheitmitdem Selbst-mordgedanken in Betracht. Es gibt kein größeres Haus in Wien, in dem nicht der Tod in Form des Selbstmordgedankens umgeht. Außer der in jeder diaotischen Epoche notwendigen Betonung sittlicher Grundsätze wäre mit Beharrlichkeit

in Wort und Schrift hinzuweisen auf bedingungslose L e b e n s b e j a h u n g als geistiges Korrelat zum Selbsterhaltungstrieb; auf das Unvermögen des Menschen, die eigene Lebenlage immer richtig zu beurteilen und daraus unabänderliche Folgerungen zu ziehen; auf die Unabwendbarkeit von Unglück und die Unvermeidbarkeit von Lebensschwierigkeiten; auf die immer noch vorhandenen kleinen, aber dafür reinen Lebensfreuden.

Im Rahmen dieser Strategie gegen die Zunahme der Selbstmordhäufigkeit muß der Kampf gegen den Selbstmord, wo immer er möglich erscheint, aufgenommen werden. Es gibt kein soziales und kein wirtschaftliches Problem, in dem nicht

auch das Selbstmordproblem aufscheinen würde: Arbeitslosigkeit, Wohnungslosig-keit, Geldentwertung, Altersfürsorge, Erziehungsmethoden im Mittel- und Hochschulalter und im Militärdienst, Politik mit oder ohne Einbeziehung des Berufs- und Privatlebens, Alkoholkonsum usw.

Vielleicht sind alle Bemühungen gegenüber der seit über 100 Jahren und vor unseren Augen erfolgenden starken Zunahme der Selbstmorde vergeblich? Wie aber der Mensch bei einer Elementarkatastrophe, ihr ohnmächtig gegenüberstehend, rettet, was noch zu retten ist, so sehen wir ihn auch bemüht, dem Tode durch Selbstmord wenigstens einzelne Opfer zu entreißen. Österreich dürfte in der ab 1928 erfolgten Errichtung von Beratungsstellen für Lebensmüde führend sein. In der gegenwärtigen Zeit höchster Not verschiedener Art und ohne Aussicht auf Besse-

rung der Verhältnisse in naher Zukunft, in der die Seelenkrsft vieler Menschen bis nahe an die Aufgabe des Lebenswillens geschwächt ist, steht die Lebcnsmüdenfürsorge im Rahmen der Caritas der Erzdiözese Wien, je nach den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, mit Rat und Hilfe bei. Der einzelne, durch Selbstmordgedanken bedrängte Mensch i?i aber unter Hinweis auf die schöne Stelle in Ludwig van Beethovens „Hciligenstädter Testament“ aufgerufen zum Widerstand gegen lebensverneinende Triebe. Wie schon • in manchem sterbenskranken Menschen der Gedanke, weiterleben zu müssen, das Weiterleben ermöglicht hat, so soll der Geist den Menschen auch wappnen gegen die Versuchung, das kostbarste irdische Gut, das er hat und das ihn zu Hoffnung berechtigt, solang er es im rechten Geiste besitzt und gebraucht, preiszugeben.

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