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Ansteckungsgefahr zum Bösen

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FURCHE: Soll man Rechtsbrecher einsperren?

THOMAS FIEGLMULLER: Der Rechtsstaat hat das Recht und die Pflicht, auf einen Rechtsbruch zu reagieren. Die Frage ist nur, mit welchen Mitteln er dies tut. Ich bin überzeugt, daß das „Einsperren“ keine adäquate Möglichkeit ist, einen Menschen zu bessern. Vor allem kommt es in der Haft zur Ghettobildung: Wenn auf engstem Raum problematische Menschen beisammen sind, ist die Ansteckungsgefahr zum Bösen immer stärker als die zum Guten.

FURCHE: Was sollte man statt dessen tun?

FIEGLMULLER: Für manche Personengruppen mag der Freiheitsentzug das zunächst einzige Mittel sein, um der Lage Herr zu werden. Für die meisten aber gibt es bessere, menschlichere Lösungen. Es wäre von Anfang darauf hinzuarbeiten, daß der Rechtsbrecher sich mit seiner Tat und in der Folge mit seinem Opfer — oder dessen Angehörigen — auseinandersetzt. Dem Täter muß bewußt werden, was er angestellt hat. Dabei geht es nicht primär um die Erkenntnis, daß er eine Vorschrift verletzt hat. Ihm müßte klar werden, welches Vertrauen er da zerstört hat.

FURCHE: Kann Versöhnung das .Einsperren“ ersetzen?

FIEGLMULLER: Jedenfalls ist statt Ghettobildung Entflechtung die bessere Lösung. Und im Anschluß an eine Versöhnung müßte eine Wiedergutmachung stattfinden. Sicher läßt sich vieles im strengen Sinn nicht wiedergutmachen - etwa, wenn eine Person ums Leben gekommen ist. Aber es gibt Ersatzhandlungen. Es kann jemand im Altersheim oder im Spital helfen oder sonstige Leistungen für die Allgemeinheit erbringen. Das wäre jeweils im Einzelfall zu entscheiden.

FURCHE: Wäre dazu nicht eine intensive menschliche Betreuung erforderlich?

FIEGLMULLER: All das müßte natürlich begleitet werden. Man kann niemanden einfach so ins Spital schicken.

FURCHE: Würde das nicht einen enormen Aufwand erfordern?

FIEGLMULLER: Zweifellos. Aber man muß bedenken: Wir haben es hier mit Menschen — wenn auch straffällig gewordenen, so doch hilfsbedürftigen — zu tun. Man darf mit ihnen nicht wie mit Dingen umgehen. Außerdem würde die Rückf älligkeitshäuf ig-keit meines Erachtens dramatisch sinken.

FURCHE: Und was müßten solche Betreuer können?

FIEGLMULLER: Der Leiter eines Schweizer Gefängnisses hat einmal davon gesprochen, daß man zur Betreuung straffällig Gewordener „edle“ Menschen braucht. Die Delinquenten sind nämlich meist schwierige, seelisch schwer verwundete Menschen. Viele können fast nur durch eine gelungene Beziehung geheut werden.

FURCHE: Welche Aufgabe ergibt sich daraus für die Gefange-nenseelsorge?

FIEGLMULLER: Es geht darum, sich mit dem einzelnen Menschen einzulassen. Hier im Gefängnis gibt es eine ebenso große Vielfalt von Menschen, wie außerhalb der Gefängnismauer. Die Punze Sträfling verdeckt ja nicht alle anderen Merkmale der Person.

Da ist der Sandler, der froh ist, für den Winter bei regelmäßiger Mahlzeit unterzukommen; der Betrügertyp, der seine Fähigkeit, sich's zu richten, auch im Gefängnis nicht verliert; der Wirtschaftsdelinquent, der die Umstellung auf den „Häfen“ nicht schafft... Auf jeden Menschen muß man in besonderer Weise zugehen.

Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist es auch, dem Gefangenen bewußt zu machen, daß es auf ihn selbst ankommt. Er muß „Nehmerqualitäten“ entwickeln, muß lernen, Rückschläge einzustek-ken. Schafft er das nicht, muß er scheitern. Er ist ja vorbestraft. Viele meinen, damit beginne erst die eigentliche Strafe.

FURCHE: Kümmern Sie sich' auch um Strafentlassene?

FIEGLMULLER: Von der Seelsorge aus betreiben wir ein Heim und verfügen über mehrere Wohnungen. Auch die Caritas hat Heime. In diesen Heimen ergibt sich allerdings wieder die Gefahr der Ghettobüdung. Da hängt es dann sehr stark von der Persönlichkeit der Betreuungspersonen ab, welches Klima in solchen Heimen herrscht. Jedenfalls gibt es in diesem Bereich ganz große Persönlichkeiten, groß in ihrer Bereitschaft zum totalen Einsatz für den Mitmenschen.

Rektor Thomas Fieglmüller ist Gefange-nenhausseelsorger in Wien.

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