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Freud und der Roman

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Vor kurzem las ich das Buch „The Bostonians“, ein Jugendroman Henry James'. Die Lektüre von „The Bostonians“ hat mich veranlaßt, mir wieder einmal die Frage zu stellen: Hat Freud den Roman bereichert? Kommen uns die Werke, die den Freudschen Erkenntnissen und „A la re-cherche du temps perdu “ vorangingen, summarisch und oberflächlich vor, wenn man sie mit den späteren vergleicht, in denen die Sexualität ihre Herrschaft angetreten hat und alle Abarten von Liebe ungescheut mit Namen genannt werden?

Wenn wir uns an den Waschzettel der „Bostonians“ halten, so wollte Henry James uns mit diesem Roman in eine frauenrechtlerische Gruppe der Bostoner Gesellschaft während der achtziger Jahre einführen, in denen es Mode war, sich für die Emanzipation der Frauen zu begeistern. Wir müssen zugeben, daß diese Geschichte für einen Leser von heute keinen Anreiz bietet, und wenn wir uns tiotzdem so stark für den Roman interessieren, so geschieht es aus Gründen, die mit der Frauenbewegung nichts zu tun haben.

Worum geht es in den „Bostonians“? Eine nicht mehr ganz junge unverheiratete Dame der besten bürgerlichen Gesellschaft, Olive Chan-cellor, faßt große Zuneigung zu der kleinen Verena, die aus einem tiefersfehenden sozialen Milieu kommt, aber, ungemein redebegabt ist. Olive hat sich ehtschlbsseri, die Begabung' ihrer jungen Freundin in den Dienst der Frauenbewegung zu stellen. Der Roman ist die Geschichte dieses Unternehmens: Verena wird von Olive buchstäblich in den Krallen gehalten, von diesem weiblichen Raubvogel, der den Männern feind ist und seine reizende Beute wütend gegen sie verteidigt — ganz besonders gegen einen von ihnen. Aber der breitschultrige Bursche aus dem Süden trägt die Beute schließlich doch davon.

Nun aber kommt das Seltsame: Von dem sexuellen Aspekt des Dramas wird in keinem einzigen Augenblick gesprochen, ja es stellt sich nicht einmal die Frage danach, und wäre es auch nur in der leisesten Andeutung. Überall ist nur die Rede von einer leidenschaftlichen Freundschaft, deren Ausbrüche weder diejenige in Verlegenheit bringt, die sie empfindet, noch diejenige, der sie gilt Diese Leidenschaft erregt kein Ärgernis und entfesselt weder in Boston noch in New York die schlechten Instinkte der Welt. Über das Paar wird keinerlei boshafte Anspielung gemacht. Im Grunde könnte der Roman von einem Unschuldsengel geschrieben sein, der nie von Gomorrha gehört hat — ja, der in einer Welt gelebt hat. in der dieses Laster nicht bekannt war In Wirklichkeit hatte die viktoria-nische, die Gesellschaft Henry James', den Rat des Apostels buchstäblich befolgt (nicht weil sie tugendhaft, sondern weil sie scheinheilig war): „Es sei von diesen Dingen unter euch nicht die Rede.“

Wäre in „The Bostonians“ davon die Rede gewesen, wäre Olive Chancellor nicht das tugendhafte Mädchen gewesen oder wäre sie, ohne das Verbrechen tatsächlich zu begehen, sich ihrer eigenartigen Neigungen bewußt geworden — hätte das Werk üadur:h an Tiefe gewonnen? Es ist nicht zu leugnen, daß ein Roman wie „The Bostonians“, der sich von aller Physiologie frei hält, meines Wissens die tiefschürfendste Beschreibung eines heiklen Kampfes zwischen einem jungen Mann und einer Amazone um ein kleines Mädchen gibt. Die in den Vordergrund geschobene Frauenbewegung dient nicht nur den Romanfiguren, sondern auch dem Autor und seinen angelsächsischen Lesern aus dem Jahr 13 86 als Alibi. Im Schutz dieser Fiktion wird uns zwar nicht gesagt, was zwei Frauen und ein Mann — in einen Konflikt dieser Art verwickelt — Abscheuliches tun können, aber wir erfahren alles, was zwei Frauen und ein Mann von gleich nobler Gesinnung in einer solchen Lage fühlen.

Man könnte die Meinung vertreten, daß das Auftauchen des sexuellen Problems den Roman nicht bereichert, sondern ihn im Gegenteil ärmer gemacht hat — und daß der Einbruch der Sexualität vielleicht einer der Gründe für die Dekadenz des Romans ist. Viele werden dem entgegenhalten, daß dieser Einbruch in Wirklichkeit nur den traditionellen und bereits erschöpften psychologischen Roman zerstörte und daß er im Gegenteil auf die Kunst des Erzählens wunderbar erneuernd gewirkt hat.

Darüber läßt sich streiten. Ich für meinen Teil denke, daß die Besessenheit von Sexuellem zu Vereinfachungen führt und den Roman an seiner Quelle trifft, weil sie zur Zerstörung all der Verbote drängt, die im Menschen, in der Gesellschaft und besonders im Schoß der Familie gegen die Leidenschaft und vor allem gegen diese Leidenschaft aufgerichtet sind.

„Sagen Sie das nur für die Schriftsteller Ihres Alters“, wird die jüngere Generation protestieren, „wir haben das alles geändert. Daß die Sexualität in den Roman eingedrungen ist, bedeutet gar nichts. Sie herrscht darin nur in dem Maß, in dem sie unsere Figuren beschäftigt: Das hängt nicht, von uns: ab, ja wir müssen es sogar ignorieren, denn wir wissen nichts von ihnen außer den. Gesten, die sie machen, den Dingen, die sie sehen, den Worten, die sie sprechen. Das Beispel der .Bostonians' gibt Ihnen nur das Recht, zu behaupten, daß im Rahmen des traditionellen und sorgfältig aufgebauten psychologischen Romans, in dem eine Figur zugleich von außen und von innen beschrieben wird, in dem der Schriftsteller sein Modell mit festem Strich umreißt und willkürlich dessen Charakter definiert und festlegt, er auf Betrachtungen sexueller Art am allerleichtesten verzichten kann. Der Porträtist verfügt nach Belieben über sein Modell; er bekleidet und beleuchtet es, wie es ihm paßt, und dann trifft er Anordnungen für die Tragödie, in die er sein Opfer stürzen will “

Diese Behauptungen, die ich einem imaginären Vertreter der Jungen in den Mund lege, helfen uns, den Platz, den Henry James an der Grenze zwischen zwei Epochen einnimmt, genauer festzulegen. Graham Greene hat von ihm geschrieben: .....am meisten ging es ihm stets um die

Dramatisierung ...“ Das verbindet den Verfasser der „Bostonians“ mit der Tradition des klassischen Romans. Aber Graham Greene fügt sogleich hinzu: „ ... er verwendete ganz besondere Sorgfalt darauf, alle persönlichen Erklärungen zu vermeiden ...“ Und dieser Zug Henry James' ist ein Vorbote der Technik, die heute die Oberhand hat.

Aber das führt uns sehr weit von der Frage fort, die wir uns stellten: Wurde die Besessenheit durch die Sexualität für den Romancier zu einer Bereicherung oder hat sie ihn ärmer gemacht? Es wäre interessant, das Problem auf zwei charakteristische Werke einzuschränken, die sehr verschieden voneinander, beide aber am Ufer desselben Toten Meeres errichtet sind: das Werk Andre Gides und Marcel Prousts.

Ich hatte immer den Eindruck, Prousts Roman ist — als Roman — nur bis zu dem Augenblick vollkommen, in dem das lange verborgene sexuelle Krebsgeschwür aufbricht, um sich greift und schließlich alle Figuren verändert, ja sogar zerstört, bis nur mehr der Autor unversehrt übrigbleibt, der ganz allein auf den wunderbaren Ruinen seines eigenen Romans steht und ihn damit rettet.

Jetzt, da Gide nicht mehr ist und wir mit einem Blick dieses Werk und dieses Schicksal überschauen können, ermessen wir besser, wie sehr das einzige sie beherrschende Anliegen sie zugleich eingeengt hat. Eine unüberwindliche Besessenheit niederer Art verursacht eine Verarmung, die auf uns gerade im Gegensatz zu Gides goetheschem Ehrgeiz wie ein Hohn wirkt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß die Ästhetik nach einer Ethik verlangt. Das gleiche Gesetz ist dem Künstler wie dem Menschen auferlegt. „Du wirst dein Werk meistern in dem Maß, in dem du dein Leben gemeistert hast “

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