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Die Sehnsucht nach einem Seelendoktor

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Viele Menschen leiden an ihren psychischen Problemen. Der Wunsch, sich einmal offen und rückhaltlos auszusprechen, führt sie aber immer weniger in die Beichtstühle, sondern zu modernen Lebensberatern (siehe auch Dossier S. 13-16).

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Viele Menschen leiden an ihren psychischen Problemen. Der Wunsch, sich einmal offen und rückhaltlos auszusprechen, führt sie aber immer weniger in die Beichtstühle, sondern zu modernen Lebensberatern (siehe auch Dossier S. 13-16).

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Das Gefühl der Einsamkeit war es, das Maurice Castle, den britisch-sowjetischen Doppelagenten in Graham Greenes Roman „Der menschliche Faktor", zufällig in eine am Weg liegende Kirche trieb. An dem mit geschmacklosem Prunk überladenen Altar, den sentimentalen Statuen und dem von innen erleuchteten Beichtstuhl erkannte er, daß es sich um eine katholische Kirche handelte.

Während Castle dem leisen Summen des Gesprächs im Beichtstuhl lauschte, wuchs in ihm der Wunsch, sich einmal offen, rückhaltlos und unter Ausschluß der Öffentlichkeit auszusprechen: „Sprechen war ein therapeutischer Akt - er bewegte sich langsam auf den Beichtstuhl zu, wie ein Patient, der zum ersten Mal zitternd einen Psychiater aufsucht." Ein Schieber ging klappernd auf, und Castle konnte das scharfe Profil des Priesters erkennen. „Ich möchte mit Ihnen sprechen", sagte Castle zu ihm. Und er wiederholte: „Ich möchte nur mit Ihnen sprechen, sonst nichts."

Der Priester zeigte sich irritiert und verärgert, forderte Castle auf, sich doch endlich hinzuknien, und belehrte ihn, daß er hier nicht bloß mit ihm, sondern auch mit Gott spreche. Als Castle dem Beichtvater anvertraute, daß er gar kein Katholik sei, forderte ihn dieser auf, ihm die Zeit nicht zu stehlen, sondern seine Adresse im Pfarrhaus zu hinterlassen, falls er eine Unterweisung im katholischen Glauben wünsche, oder zu einem Geistlichen seiner eigenen Kirche zu gehen. „Ich habe keine Kirche", antwortete Castle. „Dann brauchen Sie meiner Meinung nach einen Arzt", sagte der Priester. Er schlug den Schieber zu, und Castle verließ den Beichtstuhl.

Schieber zu, Verlassen des Beichtstuhls, Suche nach anderen Seelenärzten: eine adäquate Kurzbeschreibung für gesellschaftliche Wandlungsprozesse im Bereich der Psychohygiene. Zahlreiche Menschen fühlen sich heute einsam, viele sehnen sich nach Verständnis und Aussprache, nach seelischer Unterstützung, Beratung und Hilfe. Doch einem katholischen Priester vertrauen sie sich oft nicht an, selbst wenn er mehr Einfühlungsvermögen aufzuweisen hätte als sein soeben beschriebener Amtsbruder. Sie nehmen andere Angebote wahr, stützen sich auf neue, ihnen offenbar kompetenter erscheinende Beichtväter und Beichtmütter: Psychotherapeuten, Lebensberater, mitunter sogar Talkmaster. „Therapie", schreibt der renommierte englische Soziologe Anthony Giddens, „bietet jemanden an, an den man sich wenden kann, eine säkularisierte Version des Beichtstuhls." Eine Spielart des Beichtstuhls, so läßt sich ergänzen, die deutlich macht, daß wir in einer „Therapiegesellschaft" leben. Wie aber läßt sich diese charakterisieren? Wie ist sie zu bewerten? Welche Ursachen hat der gewaltige Hunger nach psychologischer Lebenshilfe?

Die Verwendung der Ausdrücke „Therapiegesellschaft" und „Psycho-kultur" zur Kennzeichnung zeitgenössischer Entwicklungen weist darauf hin, daß Psychotherapie für den Aufbau unserer spätmodernen Sozialwelt im historischen und interkulturellen Vergleich eine große Bedeutung hat. Psychotherapeutische Konzepte, die von der intimen Therapeut-Klient-Beziehung ausgehen, wurden spätestens in den auslaufenden sechziger Jahren in bisher nie dagewesenem Umfang entgrenzt und zunehmend auch für andere Bereiche relevant: Erziehung und Bildung, Medien und Sozialarbeit, Partnerschaft und Management, Politik und auch Religion.

Im Kontext der Therapiegesellschaft hat sich das ursprüngliche Verständnis von Psychotherapie merklich gewandelt: Sie wird nicht primär als Methode zur Heilung mehr oder weniger eindeutig diagnostizierbarer psychischer Störungen und zur Beseitigung des damit verbundenen neurotischen Leidensdrucks betrachtet. Vielmehr wird sie von vielen auch als verheißungsbesetztes Verfahren begriffen, das private Orientierungslosigkeit und beruflichen Streß reduzieren soll. Man erwartet von Psychotherapie, daß sie zur individuellen seelischen Bereicherung beiträgt oder, sofern die passenden esoterischen Ingredienzien beigemischt sind, zur Erleuchtung durch kosmische Bewußtseinserweiterung führt. In diesen „Therapien für Normale" sind vorrangig gefühlsintensive Erlebnisse gefragt, nicht das ausdauernde und oft mühsame Bohren in den harten Brettern der eigenen neurotischen Charakterstruktur.

Während Sigmund Freud es als Heilungserfolg wertete, wenn die krankhaften Symptome einer Patientin verschwanden und sie sich dadurch gegen die normalen Leiden des Alltags besser zur Wehr setzen konnte, verheißen manche spektakuläre und prestigeträchtige Heilsangebote des Psycho-booms eine ganzheitliche Persönlichkeitstransformation und rasche Hilfe bei fast allen Problemen. Die psycho-kulturelle Variante der Durchbrechung bisheriger Gefühlshorizonte oder des besseren Selbstmanagements besteht zudem in der Regel nicht in mehrjährigen Analysen, sondern in der Teilnahme an mehrtägigen En-counter-Gruppen oder der Lektüre mehrseitiger Psycho-Ratgeber.

Die teils auch bewußt geweckte Nachfrage nach Psychotherapie, die besonders beim mittelständisch-akademischen Publikum ausgeprägt ist, führte nach der Logik des Marktes zu einer erheblichen Ausweitung des Angebots qualitativ unterschiedlichster therapeutischer Dienstleistungen, darunter äußerst zweifelhafter. Gerade für viele der neueren „Therapie-Hits" des Psychobooms wie Neu-rolinguistisches Programmieren, Re-birthing und Primärtherapie, liegt, wie eine Studie des Berner Psychologieprofessors Klaus Grawe glaubwürdig dokumentiert, bisher überhaupt keine einzige stichhaltige Wirksamkeitsprüfung vor.

Einige der angebotenen über 400 Therapieformen haben sich zu quasi-religiös aufgeladenen Kultgemeinschaften oder Psychosekten entwickelt, deren Anhänger einer „Priesterherrschaft der Therapeuten" (Jörg Bopp) ausgeliefert sind. Vor allem in der populärpsychologischen Batgeber-Literatur werden die gesellschaftlichen Bahmenbedingungen individueller Schwierigkeiten nicht selten unterschlagen und Menschen so in wachsende Isolation und irrationale Selbstvorwürfe getrieben. Die Auffassung des bekannten Batgeber-Autors Joseph Murphy beispielsweise, daß die Ursache von Armut nur im falschen Denken des Betreffenden liege, illustriert diese problematische Tendenz besonders drastisch.

Im Kontext einschaltquotenorien-tierter Talkmaster verkommen zudem sinnvolle therapeutische Forderungen wie die nach einer offeneren partnerschaftlichen Gesprächskultur zu einem abstoßenden Geständnisritual und einer Tyrannei der Intimität" (Richard Sennett).

Seelische Schwierigkeiten gibt es in unserer Gesellschaft zur Genüge: Das Verblassen bisheriger lebensweltlicher Verbindlichkeiten und normativer Sicherheiten durch den Prozeß der fortschreitenden Individualisierung hat nämlich dazu geführt, daß persönliche Entfaltungsspielräume und Wahlmöglichkeiten des einzelnen wesentlich größer wurden. Diese grundsätzlich begrüßenswerte Tatsache hat auch ihre Schattenseiten, nämlich jene „Fröste der Freiheit", wie Gisela von Wysocki sie nennt: Unter der Vorgabe, daß Menschen nicht nur frei entscheiden dürfen, sondern die inmitten einer anwachsenden Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten auch müssen („Die Qual der Wahl"), entstehen neue For men von Orientierungsschwierigkei ten, Eintrübungen des Gefühlslebens und bisher ungekannte Identitätspro bleme. „Wohin soll ich mich wenden?" fragen sich zahlreiche Menschen in dieser Situation der Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Überforderung. Viele vertrauen sich psychologischen Experten an, nicht selten angeblichen, manchmal aber auch echten.

„Eine Gefahr des Psychobooms" schreibt der Münchener Psychoana lytiker Wolfgang Schmidbauer zu Recht, „liegt darin, daß durch die falschen Versprechungen auch die tatsächlichen flilfsmöglichkeiten von Psychotherapie in Mißkredit gelan gen." Im Widerspruch zu einer pau schalen Verwerfung von Psychothe rapie ist deshalb darauf hinzuweisen, daß seriöse therapeutische Angebote gerade in einer beruflich ausdifferen zierten Gesellschaft ihren Sinn und ihre Berechtigung haben: Sie offerieren professionell anspruchsvolle Unterstützung bei neurotischen Störungen und in Lebenskrisen, aber auch beim individuellen Bemühen um bessere Selbsterkenntnis und psychische Weiterentwicklung.

Mit Anthony Giddens ist Psychotherapie nicht nur als Beruhigungsmittel für die durch Individualisierungsschübe ausgelösten seelischen Irritationen zu verstehen, sondern auch als spezifischer Ausdruck der Selbstreflexivität des modernen Menschen: Sogar im seelischen Bereich läßt sich zwanghaft Vorgegebenes vom handelnden Subjekt mittels konsequentem Überdenken und zielgerichteter Besprechung selbstverant-wortlich umgestalten. Patienten beziehungsweise Klienten, die unter neurotischen Störungen leiden, bietet sich die Chance, dem „Warum" (psychoanalytisch), „Wozu" (individualpsychologisch) oder „Wie" (gestalttherapeutisch) ihres Handelns genauer nachzugehen und dadurch Änderungsprozesse einzuleiten, die zur seelischen Gesundung führen.

Aber auch jener wachsenden Zahl von Menschen, die ohne besonderen Leidensdruck zu einem Therapeuten gehen, um mehr über sich selbst, ihre Charakterzüge und ihre Motive zu erfahren, stellt das therapeutische Set-ting einen Freiraum der Selbstwahrnehmung zur Verfügung, der zu genauerer (und nicht immer angenehmer) Selbsterkenntnis und zu größerer Authentizität führen kann. Diese Leistung der Psychotherapie ist dort, wo Prozesse wachsender Selbsterforschung nicht in schuldverleugnende Selbstrechtfertigung oder egozentrische Dauerbespiegelung umschlagen, grundsätzlich als durchaus positiv zu bewerten.

Der österreichische Sozialethiker Johannes Messner hat bereits in seiner „Kulturethik" 1954 darauf hingewiesen, daß Selbsterkenntnis eine entscheidende Bedingung für geglücktes Menschsein darstellt. Und der englische Rabbi Lionel Blue hat diesen Sachverhalt vor einiger Zeit so ausgedrückt: „Wenn das Reich Gottes in uns ist, dann ist es gefährlich, Gott kennen zu wollen, ohne uns selbst zu kennen."

Der Autor ist

Universitätsassistent am Institut für Ethik und Sozialwissenschafi der Katholisch- Theologischen Fakultät an der Universität Graz. Bei der „Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie " in Köln hat er eine Ausbildung in klientenzentrierter Beratung abgeschlossen.

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