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Akzeptieren, nicht normieren

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Die Diskussion um Homosexualität zeigt, daß der Kirche wesentliche Voraussetzungen zur Seelsorge abhanden kommen.

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Die Diskussion um Homosexualität zeigt, daß der Kirche wesentliche Voraussetzungen zur Seelsorge abhanden kommen.

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Die gegenwärtige Debatte über Homosexualität aus kirchlicher Sicht läßt mich an ein Statement Eugen Drewermanns beim ersten Weltkongreß für Psychotherapie in Wien denken. Ich skizziere es im folgenden, nicht, um Menschen, die sich zur Homosexualität bekennen, eine psychotherapeutische Behandlung zu empfehlen, sondern, um drauf hinzuweisen, daß die Psychotherapie eine Reihe religiös interpretierbarer Voraussetzungen einschließt, die der Seelsorge abhanden zu kommen drohen:

1. sokratischer optimismus Es gibt keine Psychotherapie, die nicht im sokratischen Sinne davon ausginge, daß die Wahrheit in der menschlichen Person selbst liege, daß es möglich sei, sie nach und nach in einem ruhig verlaufenden Gespräch freizuarbeiten. Die Kraft des Verste-hens leistet dabei den Hebammendienst für die Wahrheit, die im Menschen liegt. Selbst das Schlimmste am Menschen scheint dem Verstehen zugänglich zu sein.

Dieser Ansatz findet bei aller nötigen Unterscheidung der beiden Bereiche eine Entsprechung in der Seelsorge: Bei der Taufe wird ein Christ gesalbt zum „Priester, König und Propheten”. Die Gemeinschaft der Kirche sagt dem/der einzelnen damit: „Du hast uns etwas zu sagen, ohne dich sind wir um ein großes Stück ärmer!” In biblischen Kategorien gesprochen bedeutet dies im Blick auf den „guten Hirten”: Hirte sein kann nicht bedeuten, andere zu Schafen zu machen, sondern Verlorenem nachzugehen. Und in weiterer Folge muß man sagen dürfen: „auch Hirten sind Schafe und Schafe Hirten!” Auch der biblische Bäk „Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet” gehört hierher.

2. Pragmatischer Individualismus Die Psychotherapie geht davon aus, daß es sich lohnt, einem einzigen Menschen Aufmerksamkeit über lange Zeit hindurch zu schenken. Monate und Jahre kann es dauern, bis sich artikulieren läßt, woran die Seele krankt. Psychotherapie erscheintso als Asylstätte menschlichen Leids, die Kunst des Zuhörens als therapeutische Qualität des Beim-Menschen-Seins.

Die Seelsorge wird durch die Bibel daran erinnert, daß im Alten Testament der Tempel der Ort ist, an dem selbst ein Blutschänder von seinem Bächer verschont bleiben muß, sofern er mit seinen Händen die Flanken des Altares umfängt. Das Individuum ist also geschützt, es wird ihm ein Wert an sich zuerkannt.

Im Neuen Testament wird bei Mk 2, 1-12 ein Gelähmter zu Jesus gebracht und durchs Dach zu ihm hinuntergelassen. Das erste Wort, das Jesus zu ihm spricht, lautet: „Deine Sünden sind dir vergeben!” Ohne Diagnose, ohne Nachfrage, einfach auf den Kopf zu: „Deine Sünden sind dir vergeben!” Egal, was war, und gleichgültig, was geschehen wird, diese Begegnung ist der Moment der Vergebung jenseits aller moralischen Bewertung. Die kirchliche Praxis mußte sich schon vor fünfzig Jahren von Erich Fromm fragen lassen, ob Reli-gion weiterhin autoritär bleiben wird oder ob sie es noch lernen kann, humanitär zu werden.

3. Methodischer Immoralismus In der Psychotherapie ist das Zurückstellen persönlicher Wertungen seitens des Therapeuten eine wesentliche Arbeitsvoraussetzung. Der Patient wird nicht dirigiert, nicht manipuliert, nicht normiert, nicht dogma-tisiert, sondern einzig und allein bedingungslos akzeptiert. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist es, daß sich die Wahrheit des Menschen nicht mit moralischen Kategorien beschreiben läßt. Die gesellschaftlichen und ethischen Standards sind ungeeignet zu wirklicher Hilfe, sie spiegeln bestenfalls die Symptome der Not des Menschen. Die Frage an ihn lautet daher nicht: Was mußt du tun? Was erwartet deine Umgebung von dir? Die Frage an ihn kann nur lauten: Was geht in dir vor? - Eine dieser therapeutischen Grundhaltung entsprechende Seelsorge weiß um das Bibelwort in Mt 11,28: „Ihr plagt euch mit den Geboten, die die Gesetzeslehrer euch auferlegt haben. Kommt doch zu mir; ich will euch die Last abnehmen!”

4. Die Wikderentdeckung des Un-bewussten

In der Psychotherapie ist die Wiederentdeckung des Unbewußten bedeutend wie die Entdeckung eines neuen Kontinents. Die Königsstraße zu diesem Unbewußten - so Freud - führt über die Träume.

Obwohl die Bibel voll ist von Trauminhalten und visionären Bildern, hat die kirchliche Praxis in der Auseinandersetzung mit den mythenbildenden Religionen im 2. Jahrhundert nach Christus die Träume nie mehr als wesentlichen Ort lebendiger Gotteserfahrung zu betrachten vermocht.

Das Unbewußte ist gefährlich geworden und seither gefährlich geblieben mit seinen Botschaften, Visionen und großen Triebstürmen. Die kirchliche Praxis hat hier kaum Interesse an Aufdeckungsarbeit und fürchtet die offene Auseinandersetzung mit Fragender Leiblichkeit und Sexualität; sie scheint zu flüchten in eine Intensivverbindung von Theologie und Becht.

Durch juristische Kategorien und Formulierungen sind aber existenti-ell-anthropologische Fragen nicht in den Griff zu bekommen; eher wird dadurch ein enges, neurotisches und neu-rotisierendes Gedanken- und Gefühlsgebäude errichtet: Pastorale Fragen der Wiederverheiratet-Geschiedenen, der Homosexualität, der Sexualität überhaupt, des „gerechten Krieges”, der Todesstrafe et cetera sind unter diesen Kategorien nur schwer bis

überhaupt nicht benennbar.

Die katholisch-innerkirchliche Konsequenz aus alledem war eine ausgesprochene Allergie der Tiefenpsychologie gegenüber. Seitdem Zweiten Vaticanum ist aber auch in der Kirche eine spürbare Neugier und Offenheit der tiefenpsychologischen Forschung gegenüber zu bemerken: Menschen werden in solchen pastoralen Ansätzen in ein größeres Vertrauen geführt, in ihren Ängsten beruhigt und geheilt.

Der momentanen Diskussion zum Thema Homosexualität merkt man innerhalb der katholischen Kirche nichts dergleichen an; eher macht sich eine ängstliche Nervosität breit und allergische Abwehr. Das Konzept einer nachgehenden Seelsorge bleibt in diesem Zusammenhang ein reines Desiderat. Bei etwas gutem Willen aber und weniger Berührungsängsten könnte die Psychotherapie der Seelsorge hier unschätzbare Hebammendienste leisten. Dazu aber bedarf es eines großen Vertrauens, das nur sehr langsam zu wachsen scheint und von vielen überhaupt für unmöglich erachtet wird.

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