Eigentlich eine Zweigötterlehre

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Der Theologe und Psychotherapeut Richard Picker über die Gemeinsamkeiten von Psychotherapie und Religion.

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Der Theologe und Psychotherapeut Richard Picker über die Gemeinsamkeiten von Psychotherapie und Religion.

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dieFurche: Sie sind Psychotherapeut und Theologe. Ist das eine gute Kombination?

Richard Picker: Ja, es paßt gut zusammen. Denn in vielen Fällen ist es so, daß Priester mit der Seelsorgearbeit überfordert sind, und sie kommen dadurch in Kontakt mit der Psychotherapie. Oder sie können ihr eigenes Leben nicht mehr bewältigen und suchen Hilfe. Viele, die die Möglichkeiten einer Psychotherapie entdecken, bleiben dann dabei.

dieFurche: Welchen Beitrag kann die Psychotherapie für die Seelsorgearbeit leisten?

Picker: Der wichtigste Beitrag der Psychotherapie für die Seelsorge ist die Aufmerksamkeit auf die faktische Wahrheit oder Wahrhaftigkeit. Das kirchliche Milieu leidet unter einer Überfrachtung von idealen Vorstellungen und Stehsätzen. Etwa, daß in einer Gemeinde nicht gestritten werden darf, Bischöfe vorbildlich zu sein haben, ein guter Christ muß sich der Armen annehmen. Da könnte man eine sehr lange Liste aufzählen. Ich kritisiere das nicht, solche Vorstellungen sind sogar notwendig. Vieles weicht aber von der Lebenswirklichkeit der Menschen stark ab. Das therapeutische Problem dabei ist, ob man der Belastung standhält, die solche Differenzen mit sich bringen. Die sarkastische Auflösung des Druckes lautet: Wir sind halt alle Gutmenschen. Die zweite Möglichkeit ist, daß man diesem Druck nicht standhält und zusammenbricht. Dann muß man unbedingt die faktische Wahrheit anerkennen.

dieFurche: Können Sie hier ein Beispiel nennen?

Picker: Ein Prälat eines österreichischen Stiftes hat einmal zu mir gesagt: Es stimmt, daß ich Armut gelobt habe, es stimmt aber ebenso, daß ich sie nicht lebe. Es ist sinnlos, in meinem wunderbaren barocken Stift Armut zu leben, das geht nicht und dazu stehe ich. Das ist therapeutisch gesehen eine faktische Wahrheit. Die Anerkennung der faktischen Wahrheit kann das kirchliche Milieu von der Therapie lernen.

Der zweite Beitrag der Psychotherapie liegt darin, daß Therapeuten von der persönlichen Erfahrung und nicht von Doktrinen ausgehen. Das verstehen viele Christen nicht. Aber das Eigenste eines jeden Menschen ist seine Lebenserfahrung. Die klassische Intervention einer Therapie ist die Frage, wie jemand etwas selbst erlebt, unabhängig von Konventionen. Da kommen auch die Schattenseiten eines Menschen, das Negative, unverstellt zum Vorschein. Menschen, die sich nie trauen zu sagen, daß sie gewaltig destruktive Phantasie gegen die Obrigkeit haben, die können das in der Therapie darstellen.

Und der dritte Punkt ist, daß die Psychotherapie Lebensentscheidungen auf ihre Tragfähigkeit abklopft. Etwa die Frage: glaubst du überhaupt, oder bist nur dahingehend erzogen worden? Solche Fragen sind für viele Menschen sehr unangenehm und belastend. Im Endeffekt sind sich Menschen aber nach der persönlichen Klärung näher, als wenn sie nur in Idealen leben würden. Menschen sind Wahrheitswesen. Wenn sie sich allzusehr von der Wahrheit entfernen, dann werden sie psychisch oder physisch krank. Das ist eigentlich der theologische Punkt in jeder Psychotherapie.

dieFurche: Welche Gemeinsamkeiten gibt es hier noch?

Picker: Die Psychotherapie ist im Grunde die säkulare Form der Dämonenaustreibung. Denn: wer oder was sind Teufel und Dämonen? Das ist eine Weltbildfrage. Es hat sich gezeigt, daß in nahezu hundert Prozent der Fälle Dämonen angereicherte psychische Energie auf Objekte sind.

dieFurche: Was meinen Sie damit?

Picker: Ich kann Objekte dämonisieren und mich vor Objekten fürchten. Im positiven Sinne handelt es sich dabei beispielsweise um Amulette, im negativen Sinne etwa um Verfluchungen. Das ist sehr ernst zu nehmen. Denn die Magie ist eine Handlungslehre und kann Folgen haben. Da wir derzeit sehr wissenschaftlich orientiert sind, mißtrauen wir der Magie. Aber wenn man die Geschichte der Magie studiert, dann ist das alles andere als lustig. Man kann das nicht einfach abtun. So können etwa Geistheiler und Schamanen mit Riten heilen. Das ist für uns aufs erste völlig unverständlich, aber der Effekt ist gegeben, das muß man zugeben. Das lehrt uns, daß Riten Gewalt haben. Jedoch nur in einem sozialen Umfeld, das diese Riten völlig akzeptiert. Die Psychotherapie befreit von Zwangsdämonen, etwa von Neurosen und Zwangsstörungen. Sie ist im positiven Sinne ein entdämonisierender Vorgang, die Befreiung von Leidenszuständen. Das kann man bereits im Epheserbrief des Paulus nachlesen: Brüder, was ans Licht kommt wird Licht. Das hätte auch Freud schreiben können.

dieFurche: Ist die Psychotherapie eine Art moderner Beichtstuhl?

Picker: Ja, dann, wenn der Psychotherapeut die Schuld stehen läßt. Die Psychotherapie sieht keine Lossprechung von Sünden vor. Aber alleine durch das klare Aussprechen und das Übernehmen von Verantwortung ist ein großer Schritt getan. Das ist zwar keine Lossprechung, es geht aber in Richtung Vergebung, sich selbst verzeihen. Unter dieser Voraussetzung gehört die Psychotherapie zu dem Gesamtvorgang "Beichte und Buße" dazu, da die Psychotherapie an der Einsicht und am Bekenntnis arbeitet. Psychotherapie und Beichte schließen sich nicht aus und können sich jedoch nicht ohne weiteres ersetzen, sie gehören zusammen.

dieFurche: Die Frage ist doch auch: wie definiert man Schuld?

Picker: Es gibt wirkliche Schuldigkeit, etwa bei Kriegsverbrechen. Oft sind Schuldgefühle aber ein umgedrehter Zorn auf andere Menschen. Viele Menschen ziehen es vor zu sagen: ich fühle mich schuldig, anstatt auf jemanden zornig zu sein. So simpel dieser Vorgang ist, so oft kommt er vor. Das sogenannte katholische schlechte Gewissen ist beispielsweise zu 80 Prozent eine umgedrehte Aggression. Manche Menschen haben nicht den Mut sich mit Gott auseinanderzusetzen, sondern sie beugen sich unter seine Autorität und haben vorsichtshalber ein schlechtes Gewissen. Das heißt, sie gehen auf sich selber los.

dieFurche: Ist Psychotherapie für manche Menschen zu einem Religionsersatz geworden?

Picker: Freud hat die Desillusionierung aller Illusionen religiös beschrieben: Wenn Menschen der sich zeigenden Wahrheit ins Gesicht sehen und sie aushalten können, dann sind sie durchanalysiert. Was ist nun aber diese sich zeigende Wahrheit? Freud sagt, daß auf unserer Erde der Tod endgültig über das Leben triumphiert. Der Tod ist durch die Todestriebe und das Leben durch die Lebenstriebe, durch Eros, repräsentiert. Das ist eigentlich eine Zweigötterlehre und bereits die Ausformung einer Religion. Die Psychoanalyse ist eigentlich eine atheistische Religion. Deswegen haben viele Analytiker auf dieser Ebene die Todestriebhypothese abgelehnt.

dieFurche: Wie aktuell ist Sigmund Freud heute noch?

Picker: So oft ich zu Sigmund Freuds Schriften greife und wo immer ich darin blättere, begegne ich einem ganz hervorragenden Text mit einer Schärfe der Beobachtung und einer Kühnheit der Interpretation, da kann man sich nur verneigen. Und ob man jetzt dem zustimmt oder nicht, man gewinnt immer etwas. Und das, glaube ich, ist die bleibende Bedeutung des Genies Sigmund Freud. Allerdings hat Freud seine Beobachtungen vor 80 bis 100 Jahren niedergeschrieben und eine Therapieform entwickelt, die zwar aller Ehre wert ist, aber gründlich adaptiert gehört, weil sie viel zu umständlich und langwierig ist. Es gilt aber heute immer noch zum Teil als Ungehörigkeit, an Freuds Lehren zu rütteln.

dieFurche: Was ist der Unterschied zwischen der Psychoanalytik, wie sie Freud entwickelt hat, und den modernen Therapieformen?

Picker: Der springende Punkt daran ist, wie man zur Wahrheit kommt. Psychoanalytisch gesprochen ist die Wahrheit zweimal verdeckt. Vereinfacht ausgedrückt: Viele Traumsymbole müssen nach verschiedenen Deutungsschemen erst auf das Gemeinte zurückgeführt werden. Bei den humanistischen, modernen Ansätzen läßt man Traumsymbole ungedeutet stehen. Die Wahrheit muß man nicht erst doppelt analytisch finden. So simpel etwa die Wahrnehmung eines Sessels ist, so bedeutungsvoll ist sie, wenn man sie auf die verschiedenen psychoanalytischen Methoden anwendet.

dieFurche: Das werfen Kritiker auch wiederum der Psychotherapie vor: Es gibt keine klaren Richtlinien, wie in vielen Bereichen der Medizin. Wie soll ein Laie entscheiden, welche Therapieform für ihn angebracht wäre?

Picker: Richtlinien kann es deshalb nicht geben, da jeder Mensch verschieden ist. Die Therapie bei einem gebrochenen Bein ist vergleichsweise einfach. Doch wenn der Kranke Widerstand gegen die Genesung entgegenbringt und unbedingt sein gebrochenes Bein behalten will, ist auch hier die Heilung verzögert. Das ist statistisch erwiesen. Menschen, die einen Anlaß haben, bald aus dem Spital entlassen zu werden, etwa Selbständige, werden viel rascher wieder gesund. Das bedarf einer Erklärung und die liefern Psychotherapeuten. Denn was man niemals gipsen kann, ist die Seele. Das ist der Schulmedizin schwer zu erklären.

Das Gespräch führte Monika Kunit.

Zur Person Theologe undPsychotherapeut Richard Picker, 1933 in Wien geboren, studierte Theologie an der Universität Wien. 1961 wurde er zum katholischen Priester in Wien geweiht. 19 Jahre später legte Picker jedoch das Priesteramt zurück. Er heiratete und ist heute Vater von drei Kindern. Es folgte die Ausbildung zum Psychoanalytiker. Später wendete sich Picker der Gestalttherapie zu: "Ich mache heute keine Psychoanalyse mehr, denn ich brauche keine zweite Religion, auch keine atheistische," nennt Therapeut Picker einen seiner Gründe für den Methodenwechsel.

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