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Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn

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Hunderte Vorträge finden vor leeren Sesselreihen statt. Als auf einem Plakat „Viktor E. Frankl“ und das Thema „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ stand, stürmten am 9. Oktober 4000 Interessenten das Auditorium Maximum der Universität Wien, in dem kaum jeder zweite Platz fand. Die unter der Patronanz des Wiener Carteilverbandes stehende Veranstaltung wurde am 4. Dezember wiederholt. Wir bringen heute einen Vorabdruck aus dem Beitrag dieses Autors zum Sammelband „Glaube und Wissen“, der Anfang 1980 im Herderverlag erscheinen wird. Es handelt sich um die Teilwiedergabe eines Vortrages, der in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten wurde.

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Hunderte Vorträge finden vor leeren Sesselreihen statt. Als auf einem Plakat „Viktor E. Frankl“ und das Thema „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ stand, stürmten am 9. Oktober 4000 Interessenten das Auditorium Maximum der Universität Wien, in dem kaum jeder zweite Platz fand. Die unter der Patronanz des Wiener Carteilverbandes stehende Veranstaltung wurde am 4. Dezember wiederholt. Wir bringen heute einen Vorabdruck aus dem Beitrag dieses Autors zum Sammelband „Glaube und Wissen“, der Anfang 1980 im Herderverlag erscheinen wird. Es handelt sich um die Teilwiedergabe eines Vortrages, der in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten wurde.

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von Diana D. Young hervor, die an der Universität von Berkely mit Tests und Statistiken nachweisen konnte, daß das Sinnlosigkeitsgefühl unter jungen Leuten signifikant mehr verbreitet ist als unter älteren.

Diese Befunde bestätigen unsere Hypothese, derzufolge das Sinnlosigkeitsgefühl zunächst einmal auf den Instinktverlust, dann aber auch auf den Verlust der Geborgenheit in den Traditionen zurückzuführen ist; denn die für den jungen Menschen so charakteristische Entfremdung gegenüber den Traditionen muß das Sinnlosigkeitsgefühl intensivieren.

Soviel zur Ätiologie der Massenneurose von heute. Nun zu deren Symptofnatologie, im besonderen im Hinblick auf das zuletzt angeschnittene Thema, den jungen Menschen. Wir begegnen da einer „massenneurotischen Trias“, wie ich sie nenne: die zunehmende Jugendkriminalität, die Drogenabhängigkeit und die sich namentlich in der akademischen Jugend häufenden Fälle von Selbstmord.

Wenn wir Stanley Krippner glauben dürfen, dann liegt das Sinnlosigkeitsgefühl in 100 Prozent der Fälle der Drogenabhängigkeit zugrunde. Es versteht sich von selbst, daß eine das Sinnlosigkeitsgefühl als ätiologischen Faktor berücksichtigende und mittels einer sinnzentrierten Psychotherapie ausräumende Rehabilitation Erfolg verspricht. So kommt es denn, daß Alvin R. Fraiser, der in Kalifornien ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige leitet und dort die Logotherapie eingeführt hat, nicht die durchschnittliche Erfolgsrate von elf Prozent, sondern eine von 40 Prozent verzeichnen konnte.

Nun zur Kriminalität. Tatsächlich haben Black und Gregson von einer Universität in Neuseeland herausgefunden, daß Kriminalität und Lebenssinn in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Wiederholt in Gefängnisse eingelieferte Häftlinge unterschieden sich, gemessen am Lebenssinn-Test von Crumbaugh, von der durchschnittlichen Bevölkerung im Verhältnis von 86 zu 115.

Zurück zur masseneurotischen Trias. Statistiker haben nachgewiesen, daß unter den amerikanischen Studenten als zweithäufigste Todesursache - nachdem Verkehrsunfall - der Selbstmord rangiert. Dabei ist die Zahl der (nicht tödlich ausgegangenen) Selbstmordversuche 15mal höher. Und das inmitten von Überfluß und mitten im Wohlfahrtsstaat. Ist das nicht unerklärlich?

Nur, solange wir nicht aufhören,einer veralteten Motivationstheorie getreu am Menschen, wie er ist, vorbeizutheoretisieren. Nehmen wir doch einmal eine Statistik her, die sich auf 60 Studenten an der Idaho State University bezieht, die Selbstmord versucht hatten: in 85% ergab sich, was das Motiv anlangt, daß sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr sehen konnten; von diesen an einem Sinnlosigkeitsgefühl leidenden Studenten aber waren 93% physisch und psychisch gesund, sie lebten in guten wirtschaftlichen Verhältnissen und im besten Einvernehmen mit ihrer Familie, sie waren im gesellschaftlichen Leben aktiv engagiert und konnten auch mit ihren akademischen Fortschritten zufrieden sein.

Wie wollen wir so etwas verstehen, wenn wir nicht davon ausgehen, daß der Mensch eigentlich - und dort, woer es nicht mehr ist, so doch wenigstens ursprünglich - darauf aus ist, in seinem Leben einen Sinn zu finden und diesen Sinn zu erfüllen?

Jemand hat einmal die Psychoanalytiker als „unverbesserliche Materialisten“ bezeichnet. Und zwar war das Sigmund Freud selbst. Ich bin nun gefaßt darauf, daß Sie mich nach alledem, was ich zum „Willen zum Sinn“ als der primären menschlichen Motivation gesagt habe, als einen „unverbesserlichen Idealisten“ beschimpfen werden. Sie werden mir aber auch nachsagen, daß ich mit meiner Hypothese von einem Willen zum Sinn den Menschen auf ein zu hohes Piedestal stelle, daß ich ihn überschätze und damit auch überfordere.

In diesem Zusammenhang fällt mir aber immer ein, was mir einmal mein kalifornischer Fluglehrer gesagt hat: „Angenommen, ich will nach Osten fliegen, während ein Seitenwind von Norden kommt, dann würde ich mit meinem Flugzeug nach Südosten abgetrieben werden; steuere ich hingegen die Maschine nach Nordosten, dann fliege ich tatsächlich nach Osten und lande dort, wo ich landen will.“ Ergeht es uns aber mit dem Menschen nicht ebenso? Nehmen wir ihn einfach so, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter; nehmen wir ihn hingegen so, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann. (Das hat mir allerdings nicht mein kalifornischer Fluglehrer gesagt, sondern das ist ein Wort von Goethe.)

Jedenfalls läßt sich der Wille zum Sinn nicht als Wunschdenken abtun. Eher handelt es sich um eine „selffulfilling prophecy“, *wie die Amerikaner eine Arbeitshypothese nennen, die das, was sie entwirft, zu guter Letzt auch hervorbringt.

Anscheinend kommt dem Willen zum Sinn etwas zu, für das die moderne Psychologie den Ausdruck „survival value“ geprägt hat. Es war nicht zuletzt die Lektion, die ich aus Auschwitz und Dachau mit nach Hause nehmen konnte: daß diejenigen noch am ehesten fähig waren, sogar noch solche Grenzsituationen zu überleben, die ausgerichtet waren auf die Zukunft, auf etwas, das auf sie wartete, oder auf jemanden, der auf sie wartete.

Eine Reihe von Psychiatern hat dies später in japanischen, nordkoreanischen und nordvietnamesischen Kriegsgefangenenlagern bestätigen können. Das wurde mir übrigens auch von den drei amerikanischen Offizieren bestätigt, die in Nordvietnam die längste Kriegsgefangenschaft (bis zu sieben Jahren) überlebt hatten und, wie der Zufall es wollte, an der US International University in Kalifornien meine Studenten waren. Dort haben sie in meinem Seminar ausführlich über ihre Erfahrungen referiert, und das übereinstimmende Resümee lautete: Es war der Wille zum Sinn, was sie letzten Endes am Leben erhalten hatte!

Wir sind davon ausgegangen, daß der Wille zum Sinn von der Wissenschaft ignoriert wird, flieht weniger wird seine Frustration ignoriert.

Es hat sich herausgestellt, daß es eine Illusion gewesen ist Zu glauben, es erübrige sich, auf die Sinnfrage einzugehen, vielmehr müßten wir nur die psychodynamischen Prozesse, die ihr nach der Psychoanalyse zugrunde liegen, und die Lernprozesse, die ihr nach der Verhaltenstherapie zugrunde liegen, ausräumen, und „das Leiden am sinnlosen Leben“ würde spontan heilen. „Trachtet nur nach; dem Reich von Freud und Skinner, und alles andere wird euch dazugegeben werden.“

Es kann nur auch passieren, daß euch etwas weggenommen wird. Hat doch einer der bekanntesten katholischen Psychiater geschrieben, daß „in 90 v. H. der Fälle“, in denen „Priester ausgezogen“ waren, „um sich zum Psychotherapeuten ausbilden zu lassen, die Priester das Priestertum aufgaben“. Bekanntlich hat von Gebsattel einmal von der „Abwanderung der abendländischen Menschheit vom Priester zum Seelenarzt“ gesprochen. Heute können wir von einer Abwanderung der Priester von der Seelsorge zur Psychoanalyse sprechen.

Gelegentlich eines Vortrages, den ich auf Einladung des Internationalen PEN-Clubs zu halten hatte, beschwor ich die Dichter und Schriftsteller, doch endlich damit aufzuhören, den Menschen herunterzumachen und sich über die heile Welt lustig zu machen. Selbstverständlich gehöre es nicht zu den Aufgaben der Literatur, sagte ich, die Wirklichkeit zu beschönigen, sie zu verharmlosen. Sehr wohl mag es aber zu ihren Aufgaben gehören, jenseits der Wirklichkeit eine Möglichkeit aufleuchten zu lassen, die Möglichkeit einer Veränderung der Wirklichkeit, die Möglichkeit einer Umgestaltung der Wirklichkeit.

Die Welt liegt im argen - wem sagen Sie das? Sie ist nicht heil. Aber Sie werden verstehen müssen, daß es mir als Arzt widerstrebt, es dabei bewenden zu lassen. Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar. Wenn der Schriftsteller nicht fähig sei, sagte ich schließlich.den Leser gegen Verzweiflung zu immunisieren, dann solle er es doch wenigstens unterlassen, ihn mit Verzweiflung noch zu infizieren.

Heute müssen wir also schon froh sein, wenn uns Sinn nicht genommen wird.

Können wir aber Sinn geben oder zurückgeben? Und wer ist da zuständig? Am Ende wir Psychiater?

Sinn läßt sich gar nicht geben, und am allerwenigsten können wir Psychiater ihn geben - dem Leben des Patienten einen Sinn geben oder diesen Sinn dem Patienten mit auf den Weg geben. Sondern Sinn muß gefunden werden, und er kann jeweils nur von einem selbst gefunden werden. Bei der Sinn-Wahrnehmung handelt es sich um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit. Und zwar handelt es sich um die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verändern.

Diese Möglichkeit ist jeweils einmalig und einzigartig. Aus ihrer Einmaligkeit folgt aber, daß die Möglichkeit einer Sinnerfüllungvergänglich ist, daß sie flüchtig ist. Sie hat „Kairos“-Charakter! Wenn wir eine solche Möglichkeit nicht verwirklichen, dann ist sie für immer dahin. Wenn wir sie aber einmal verwirklicht haben, dann haben wir sie ein für allemal verwirklicht. Dann haben wir die Wirklichkeit, zu der wir eine

Möglichkeit gemacht haben, hineingerettet ins Vergangensein.

Denn im Vergangensein ist sie aufbewahrt. Dort ist sie vor der Vergänglichkeit bewahrt. Im Vergangensein ist nämlich nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen. Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit; was er übersieht, sind die vollen Scheunen des Vergangenseins.

Aber wir haben auch gesagt, daß die Möglichkeit, Sinn zu erfüllen, jeweils einzigartig ist. Im Gegensatz zu den Werten, die ich als Sinn-Universalien definieren möchte, ist Sinn jeweils ein Unikat. Daher ist Sinn, wieder im Gegensatz zu den Werten, nicht tradierbar.

Aus demselben Grund ist er aber auch nicht affizierbar, kann er also von dem für unser Zeitalter so charakteristischen Traditionsverlust nicht affiziert werden. Sogar dann, wenn .alle Traditionen und in ihrem Gefolge sämtliche Werte zusammenbrächen, würde sich Sinn noch immer finden lassen und könnte man noch immer sagen: Die Werte sind tot, es lebe der Sinn

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