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Flucht in den Ersatz ?

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Eine rein technologische Kultur vermag den Menschen nur als Maschine zu betrachten und in Bewegung zu setzen, sowohl im Bereich der Industrie und der Wirtschaft als auch im Bereich der Medizin und der Psychologie. Somit wird die Gesundheit zur Leistungsfähigkeit und das menschliche Glück zur Lust, welche ebenfalls — da das Seelische oder Nichtkörperliche auf einen „psychischen Apparat“ reduziert wurde — bloß mechanistisch ausgedeutet werden sollte, wie es Sigmund Freud, der große Konservative des naturwissenschaftlichen Denkens auf psychologischem Gebiet, gemacht hat. In einem so eingeengten Verständnisraum mußte die Schuld, diese Eigentümlichkeit des Menschendaseins, von vornherein als Betriebsstörung erscheinen, als Folge der auf Vatertötung und Inzest bezogenen Triebregungen und Wünsche, gegen die allerlei Tabuvorschriften aufgerichtet worden sind (Freud G. W. XI), als „das Ergebnis... höchst bedeutsamer biologischer Faktoren“ (G. W. XIII), als „Ausdruck des ewigen Kampfes zwischen Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb“ (G. W. XIV), als Spannung zwischen einem vergegenständlichten Ich und dem introjizierten Vaterbild (a. a. O.), die Energiestauung, Gleichgewichtsverlust und Automatisierung von Vorstellungen und Handlungen verursacht.

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Eine rein technologische Kultur vermag den Menschen nur als Maschine zu betrachten und in Bewegung zu setzen, sowohl im Bereich der Industrie und der Wirtschaft als auch im Bereich der Medizin und der Psychologie. Somit wird die Gesundheit zur Leistungsfähigkeit und das menschliche Glück zur Lust, welche ebenfalls — da das Seelische oder Nichtkörperliche auf einen „psychischen Apparat“ reduziert wurde — bloß mechanistisch ausgedeutet werden sollte, wie es Sigmund Freud, der große Konservative des naturwissenschaftlichen Denkens auf psychologischem Gebiet, gemacht hat. In einem so eingeengten Verständnisraum mußte die Schuld, diese Eigentümlichkeit des Menschendaseins, von vornherein als Betriebsstörung erscheinen, als Folge der auf Vatertötung und Inzest bezogenen Triebregungen und Wünsche, gegen die allerlei Tabuvorschriften aufgerichtet worden sind (Freud G. W. XI), als „das Ergebnis... höchst bedeutsamer biologischer Faktoren“ (G. W. XIII), als „Ausdruck des ewigen Kampfes zwischen Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb“ (G. W. XIV), als Spannung zwischen einem vergegenständlichten Ich und dem introjizierten Vaterbild (a. a. O.), die Energiestauung, Gleichgewichtsverlust und Automatisierung von Vorstellungen und Handlungen verursacht.

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Als betriebsstörend wurde jedes Schuldgefühl für ungesund gehalten und durch eine entsprechende Behandlung bekämpft: „Die Psychoanalyse — erklärte C. G. Jung — ist die natürliche Entwicklung der Beichte ... Meine Methode, wie jene von Freud, wurde auf der Praxis dei Beichte aufgebaut.“ Abgesehen davon, daß naturwissenschaftliches Denken, seinen eigenen Prämissen gemäß, weder den religiösen Sinn der Sünde — es gibt Sünde nur wo Freiheit und Verantwortung vor einem personalen Gott vorhanden sind — noch das Wesen der Beichte als Sakrament erfassen kann, haben sich die Theorie und die Praxis der Psychoanalyse in diesem Zusammenhang als ein typisch positivistischer Mythos erwiesen. Der bekannte Zürcher Psychotherapeut G. Bally schreibt: „Die Reduktion des Schuldproblems auf ein psychologisches geschieht nur in der Absicht, das Schuldproblem für den Einzelmenschen und schließlich für alle Menschen aus der Welt zu schaffen. Alle Versuche, die Stammes- und individualgeschicht-liche Genese des Schuldgefühls zu erforschen, entstammen der Absicht, mit der Enthüllung der Ursache die Schuld selbst als eine Illusion zu entlarven und aufzuheben.“ — „Der Traum des durch die Psychoanalyse schuldfrei werdenden Menschen ist ausgeträumt.“

Moderne und anthropologisch bestfundierte Psychopathologien und Psychotherapien — von Binswangef bis Condrau, von Minkowsky bis Frankl, von Sullivan bis Boß — erzielen gerade das Gegenteil, und zwar die Erkenntnis und Aufnahme des Schuldigseins, und unterscheiden genau moraltheologische von rein existentieller Schuld. Diese wird durch krankhafte Schuldgefühle offenbar, die an sich mit der Sünde oft nichts zu tun haben, besteht in einer Einengung des Offenseins zur Welt, zum Mitmenschen, zu den Werten und zu Gott, und verhindert die Entfaltung der Daseinsmöglichkeiten, die Liebeshingabe und die Dienstbereitschaft, welche allein die Sorge um die Selbsterfüllung aufzugeben wissen. Die Angst- und Schuldgefühle stellen eine gesunde Warnung dar, die der Arzt erkennen sollte und dem Patienten erkennbar machen wird, damit er die eigene Verantwortung übernimmt und von der eigenen Freiheit Gebrauch machen lernt: nicht irgendeine Freiheit von etwas — Zwangsvorstellung der früheren Psychotherapien —, sondern die Freiheit zu etwas (Frankl, Boß), zu einer Stellungnahme, zur Öffnung dem andern gegenüber, der eigenen existentiellen Aufgabe, dem persönlichen Verhältnis zu Gott.

Krebsgang der Theologen

Bedeutet djese Loslösung von vorbedachten deterministischen Philosophien einen der wertvollsten Fortschritte der heutigen Psychotherapie, so zeigt sich der Krebsgang einiger Moral- und Pastoraltheologen, bei denen in jüngster Zeit Wissenschaft, lichkeit zum Kitsch geworden ist, wenn sie die Sünde auf verschiedene Weise zu entleeren wagen, im Namen einer unkritisch wiedergekauten Psychodynamik, die sich ihrerseits auf die dogmatische Starre der Freudschen Lehre, auf die Ethologie, auf mehr oder weniger strukturali-stische Soziologien, und sogar auf die im W. Reichs „Garten der Lüste“ aufgeblühte marcusische Utopie munter beziehen. Eine Pastorallehre, die den Sündensinn zu ignorieren oder zu verharmlosen versucht, ist nicht nur theologisch töricht, sondern psychologisch rückschrittlich und unverzeihlich albern.

Das Bußsakrament hat als Gegenstand die moraltheologische Schuld, die kein Psychotherapeut heilen könnte und möchte. Es fordert und fördert alles andere als die infantile Einstellung, die sich einem paterna-listischen und repressiven Ritus unterwirft, denn der Schuldige erfährt dabei, wie nur selten bei anderen Gelegenheiten, daß ihn

“keine Magie und keine Gefühlsduselei von der Sünde reinigen könnte, sondern allein die gläubige und mündige Aufnahme der freien Ver. gebung Gottes. Die Beichte drückt sowohl den entschlossenen, reifen Protest gegen jede Anmaßung und Abstraktion des Rationalismus einer Religion des reinen Geistes aus, als auch die Bejahung des Realismus einer Leibwerdung der Gnade in der sichtbaren Kirche, in den fühlbaren Sakramenten. Hier erlebt der gläubige Christ das Härteste und Reifste der christlichen Religiosität: Seine Beziehung zum lebendigen Gott in der und durch die Kirche, als den sich in der Geschichte entfaltenden Leib des Herrn, der uns rettet, indem er sich uns einverleibt. Darum die Unentbehrlichkeit einer immer tieferen Bildung der Gläubigen bezüglich des religiösen — nicht bloß psychologischen — Sinns der Beichte, weil nur diejenigen, die eine rechte Auffassung von Sünde und Sakrament besitzen, imstande sind, alle ihre theologischen und kirchlichen Dimensionen zu erleben.

Gewiß können die Bußandachten das Bewußtwerden des gemeinschaftlichen Aspektes der Sünde und der Reue psychologisch stärken, und in diesem Sinne dürfen sie als geeignete Propädeutik und Einleitung zum Sakramentenempfang betrachtet und geübt werden. Gewiß entspricht der Not der Stunde die Gestaltung sogenannter Selbsterfahrungsgruppen, die durch Erlebnis der Nächstenliebe und der gemeinsamen Bestimmung zu einem heiligen Volk sich gegen die Vermassung unserer säkularisierten Gesellschaft stemmen lernen, aber sie als Ersatz und Gegensatz zur Ohrenbeichte zu betrachten, vermögen nur Soziologen, die Klischees folgen und nur sehr vage Kenntnisse und Erfahrungen vom Sakramentenleben haben.

Abgesehen von der realen und erlebten Sozialität der Ohrenbeichte, vermag der Psychologe darauf hinzuweisen, daß Heilsindividualis-rnus und noch Schlimmeres justa-ment bei Gruppen nicht selten gedeihen, denn sie enthüllen sich öfter •als Unterwanderungsfeld des infantilen Ich, als Zuflucht der Verantwortungslosigkeit, als Ort der Manipulation, als Bremse des Reifungsprozesses des Gewissens. Man muß deshalb diesen heute laut besungenen Bußandachten äußerst kritische Aufmerksamkeit schenken, denn sie erscheinen bereits als bloß autosuggestive psychotherapeutische Sitzungen, denen nur noch die Zauberstabberührung einer — unerlaubten — absolutorischen Formel fehlt, um eine neue Welle des alten Mesmerismus im kirchlichen Bereich zu entfesseln. Also wiederum Heilsrausch des Kollektivs.

Ersatz

Wer an die Sakramentalität der Kirche und insbesondere der Ohrenbeichte nicht glaubt, sucht zwangsläufig nach Ersätzen, denn niemand kann ohne Geborgenheit und Vergebung auskommen. Das aber sollte sich nicht in zügellose Kritik an der Ohrenbeichte verwandeln, welche, wie alles unter Menschen, mißdeutet und mißbraucht werden kann, doch eine der klarsten Quellen der Glaubensreife, der Verfeinerung des Gewissens und der Leibwerdung der Spiritualität darstellt. Erfahrungsgemäß entwickeln und veredeln sich am Glaubensleben Gescheiterte fast spontan als „Enthüllungswissenschaftler“ — entmytologisierende Theologen, herkömmliche Psychologen und Soziologen —, als Uberschlaue bestrebt, unter dem inneren Druck „was immer dahinter steckt“ bei allen religiösen Gegebenheiten abzudecken, oft auch bestrebt, was offenbar da vor allen erscheint, vor lauter „Blickschärfe'“ zu übersehen. Und „dahinter steckt“, nach der kausalmechanistischen Faustregel der konservativen Psychoanalyse, nur eines: Das Triebhafte. So ergaben sich die starrsten Interpretationsschemata: Gnade wird zur Projektion der infantilen Abhängigkeit; Gottesgebote zur Vergegenständlichung gesellschaftlicher Normen, die ihrerseits zum Über-Ich werden; objektive Werte zum selbsterrichte-ten Ich-Ideal, das das freie Gewissen belastet; Sündenbekenntnis zur knechtischen Unterwerfung, die die Auseinandersetzung vermeidet;

Beichte vor dem Vertreter Gottes zur „institutionellen Einrichtung einer Gesellschaftsgruppe — der Kirche —, die das Ihre sucht und die anderen ausplündert, um soziale Abhängigkeit und Machtstrukturen aufrechterhalten zu können“ (T. Brocher). Man sieht die Überheblichkeit und die Oberflächlichkeit einer unbefangen triumphalistischen Technologie, die sich alles erlaubt und zahlreiche vorbedachte Postulat weltanschaulicher Art voraussetzt. Der Pyrrhussieg der Sozialpsychologie — die immer noch Zauberlehrlinge unter dem Klerus rekrutiert — besteht im Paradoxon einer Krisenwissenschaft, die alle anderen Kenntnisse verführt und entzaubert, und muß deshalb sich damit abfinden, ein vereinsamter Götze geworden zu sein.

Sicherlich bedarf der Priester einer immer tieferen psychologischen Ausrüstung, nicht, um Beicht-Aussprachezimmer in Psychotherapiekabinette umzugestalten — es wäre eine wahre Katastrophe für die Seelsorge —, wohl aber, damit er lerne, die Geister sicherer zu unterscheiden, geduldiger und aufmerksamer zu hören, jede Routine zu vermeiden, die Gewissensreifung zu fördern und jede Anhängigkeit taktvoll und energisch aufzulösen. Er würde auch dadurch lernen und erfahren, daß bei der Beichte, rein psychologisch betrachtet — wie bei jeder Psychotherapie —, nicht die Methode das entscheidend Wirksame ist, sondern die Grundhaltung des Seelsorgers, seine Persönlichkeit, seine restlose und selbstlose Hingabe, sein unenttäuschbares , Vertrauen auf die Entfaltungsmöglichkeiten aller Menschen. Was die Gläubigen entmutigt und entfernt, ist nicht die Gestaltung der Beichte — worüber man diskutieren und für die man Anpassungen an die Bedürfnisse des einzelnen innerhalb der kirchlichen Normen erfinden darf —, sondern die Verwirrung und die Verlegenheit beim Seelsorger, den allein das persönliche Verhältnis zu Christus erleuchten und befestigen wird, nach den Worten 'Sören Kierkegaards, die ganz aktuell klingen:

„Diese grenzenlos aufgeschwollene, theologisch Wissenschaft'-1*^ Verwirrung des Christentums meint man noch mit einem neuen Werk bekämpfen zu können. Nein, meine lieben Kinder, die Sache ist ganz einfach: Schafft einen einzigen wirklichen Beichtvater und verpflichtet den Theologieprofessor, im Beichtstuhl mit Gott zusammenzutreffen. Eins, zwei, drei wird die Theologie aus ihm herausgebeichtet sein, da das Ganze nur zusammenhängt mit der Weltlichkeit und ihrer Ungeniertheit, über das Christentum zu reden. Was mangelt, ist das Gewissensverhältnis zum Christentum. Der Theologieprofessor soll lernen, zu was ihn das Neue Testament wie jeden anderen Christen verpflichtet; dann wird er schon eine andere Sprache reden; er wird begreifen, welcher Nachsicht er bedarf, um weiter Professor... zu bleiben, anstatt Missionar und Märtyrer zu sein. Lernt er das, so wendet er das Verhältnis nicht um und macht nicht seine Stellung zum Wichtigsten. — Wissenschaftlich läßt sich aber die Verwirrung wahrhaft rächt beheben.“

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