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Nichts prägt den Menschen so sehr wie seine Ursprungsfamilie. Zugleich weist das System Familie eine Reihe immanenter Sollbruchstellen auf. Sigmund Freud hat mit dem "Ödipus-Komplex" eine wesentliche Psycho-Dynamik beschrieben. Doch stimmt das, was Freud zu Tage gefördert hat, auch noch für die Patchworkfamilien von heute? Können Adoptionen glücken? Werden psychische Erkrankungen "vererbt"? Und was ist von Familienaufstellungen zu halten? Ein Dossier über das Psychodrama Familie. Redaktion: Doris Helmberger Selbstmörder, abgetriebene Kinder, Ausgeschlossene: Wie Psychotherapeuten versuchen, mit Hilfe der Familienaufstellung "Verstrickungen" zu lösen - und sich selbst von Pfuschern abzugrenzen. Von Doris Helmberger

Harry ist ein Profi: Zur beruhigenden Einstimmung hat er Mozarts Klarinettenquintett in A-Dur aufgelegt. Nun kocht er Kaffee, verteilt Kekse und Schokolade auf kleinen Tellern und platziert diese achtsam auf den Ablagen zwischen den Sitzplätzen. Für das, was sich an diesem Samstag in der "Alten Burse" in der Wiener Sonnenfelsgasse 19 abspielen wird, brauche man eben Energie, meint Harry. "Zugenommen hat bei uns noch niemand."

Harry ist kein gewöhnlicher Teilnehmer. Die Leiterin des Aufstellungstages in der "Alten Burse", die Psychotherapeutin Christl Picker, ist seine Schwiegermutter. Er unterstützt sie bei der Organisation und steht als Repräsentant zur Verfügung. Über 700 Aufstellungen hat der Computertechniker solcherart schon hinter sich gebracht - und fast immer wurde er als Stellvertreter ausgewählt. Er sei schon alles gewesen, erzählt Harry: Mörder, Selbstmörder, die erste Liebe oder ein abgetriebenes Kind.

Im "wissenden Feld"

Auch wenn der Erfahrungsschatz von Harry jenen der 19 anderen in der Gruppe überragt: Wirklich neu ist das Familienstellen nur zwei Personen. Alle anderen haben schon einmal versucht, bei Christl Picker Licht ins Dunkel ihrer Familiengeschichte zu bringen und unter professioneller Anleitung "Seelenhygiene" zu betreiben. "Wir sind eben mit unserer Ursprungsfamilie verstrickt", erklärt die ausgebildete Gestalttherapeutin Picker. "Trotzdem tragen wir natürlich Verantwortung für das, was wir tun."

Ihre Methode hat Picker bei Bert Hellinger gelernt (siehe Kasten): Der oder die Aufstellende wählt dabei Personen aus dem Kreis der Teilnehmer aus und stellt sie - stellvertretend für die Mitglieder der eigenen Familie - in Beziehung. Auch früh verstorbene Familienmitglieder oder abgetriebene Kinder werden repräsentiert. Auf unerklärliche Weise kommt es laut Hellinger dazu, dass die Teilnehmer die Gefühle der Personen nachempfinden, die sie repräsentieren. Ihre emotionalen Erkenntnisse gewinnen sie dabei aus einem "wissenden Feld". Der Therapeut versucht nun gemeinsam mit den Repräsentanten, die "gute Ordnung" wiederherzustellen und mit Hilfe von Ritualen und formelhaften Sätzen "Verstrickungen" zu lösen.

Drei Dynamiken seien bei solchen "Verstrickungen" mit den Ahnen zu finden, erklärt Christl Picker der erwartungsvollen Runde: "Ich mache es wie Du." "Ich mache etwas statt Dir." Oder: "Ich sühne für begangenes Unrecht."

Was bei ihrem schwermütigen Bruder dahintersteckt, weiß Leopoldine nicht genau. Es könnte mit dem Großonkel zu tun haben, dem vier Kinder und seine erste Ehefrau gestorben sind. Leopoldine selbst hat unter Burn-out gelitten - und sich wegen einer Familienaufstellung an Christl Picker gewandt. "Doch die Christl hat mir gesagt, dass das eher mit meinem Beruf zu tun hat und dass ich lieber zuerst eine Therapie machen soll", erzählt die Büroangestellte. Sie hat den Rat beherzigt - doch später aus Interesse doch noch ihre Mutterseite aufgestellt. Heute ist die Vaterseite dran.

"War es eine Abtreibung?"

Harry ist wieder mit dabei: Er soll in die Rolle des schwermütigen Bruders schlüpfen. Leopoldine sucht weitere Repräsentaten aus - für sich selbst, für ihre Eltern, für die Großmutter väterlicherseits, deren unglückseligen Bruder und seine Frau, die bei der Geburt des dritten Kindes umgekommen ist. Zu Füßen des Paares platziert sie drei Teilnehmerinnen als Stellvertreter der toten Kinder. Daneben stellt sie seine zweite Gattin auf - und zu ihren Füßen die Repräsentantin eines weiteren verstorbenen Kindes. "Mir schnürt es die Luft ab, ich bin ganz steif", schildert der Repräsentant des Großonkels. "Ich wollte kein Kind", erklärt neben ihm die zitternde Repräsentatin der zweiten Frau. "War es eine Abtreibung?" fragt Christl Picker. "Ich glaube schon." Mit Hilfe formelhafter Sätze versucht Picker, die "Ordnung" zwischen dem Paar wiederherzustellen. Dann erst kommt Leopoldines Bruder ins Spiel. "Lieber Großonkel, ich gebe dir die Ehre", sagt Harry und verneigt sich tief. "Es tut mir sehr leid, was du erlitten hast, aber das musst du selber tragen. Es ist zu schwer für mich. Du bist der Große und ich bin der Kleine. Bitte segne mich."

Nach eineinhalb Stunden, als alle ihren richtigen Platz und ihren Frieden gefunden haben, ist die Aufstellung zu Ende. Ob sie sich auch positiv auf den Seelenzustand ihres Bruders auswirkt, wird Leopoldine mit Spannung verfolgen. Doch welche Kräfte sind hier wirklich am Werk? "Auch mir ist unerklärlich, wie die Repräsentanten - unabhängig von der Zeit- und Raumschranke - die Gefühle der Personen empfinden können, die sie darstellen", meint Christl Picker. "Aber es ist erlebbar - und es ist hilfreich. Das allein zählt für mich."

Viele ihrer Kollegen sehen das anders. "Esoterisch-magisch motivierte Schicksalsgläubigkeit", "autoritäre, befehlsartige Anweisungen" und "rezeptartige Lösungen ohne individuellen Bezug" ortet etwa der Wiener klinische Psychologe Wolfgang Prinz in der Broschüre "Nachdenkliches zu Bert Hellinger", die im Oktober 2007 vom Referat für Weltanschauungsfragen der Erzdiözese Wien herausgegeben worden ist. Tatsächlich ist die Familienaufstellung nach Hellinger in Österreich nicht als psychotherapeutische Methode nach dem Psychotherapiegesetz anerkannt.

Autoritärer Hellinger

"Das ist auch klar, denn Hellinger hat keine wissenschaftliche Theorie entwickelt, sondern immer situationsgebunden gesprochen", entgegnet Christl Picker. Sie selbst hat bei Hellinger nicht nur das Familienstellen gelernt, sondern am Beginn ihrer Ausbildung auch eine Psychoanalyse durchlaufen. 1971 war sie - gemeinsam mit ihrem Mann, dem Psychotherapeuten und "Priester ohne Amt" Richard Picker - sogar Hellingers Trauzeuge. Inzwischen habe sie sich freilich von Hellinger inhaltlich entfernt, erklärt die 65-jährige Mutter dreier Töchter. "Schon früher habe ich es schlecht ausgehalten, wenn er manchmal sehr unfreundlich und autoritär mit Leuten umgegangen ist", erinnert sie sich. Das "geistige Familienstellen", das er nun praktiziert - eine Variante in gefährlicher Nähe zum Channeling und zur Wahrsagerei -, sei ihr hingegen vollkommen fremd.

Nicht nur bei Hellinger selbst, auch in der gesamten Aufsteller-Szene ist Vorsicht geboten. "Eine Familienaufstellung ist prinzipiell nicht statt einer Psychotherapie gedacht, sondern kann sie nur unterstützen - und eventuell abkürzen", stellt Picker klar. Auch sollten nur ausgebildete Psychotherapeutinnen und -therapeuten Aufstellungen leiten. Doch selbst bei ihnen treffe man nicht immer auf das nötige Fingerspitzengefühl.

Bei Aufstellungen wie jener von Wolfram hätte das ins Auge gehen können. Eine Gehstörung, für die es keine medizinische Erklärung gibt, hat den drahtigen Mann aus der Automobilbranche in die "Alte Burse" geführt. Wolfram stellt die Repräsentanten auf: für sich selbst, seine vier Geschwister, von denen ein Bruder mit 17 Jahren an einem Nierenleiden verstorben ist, für seine Eltern, die sieben Geschwister des Vaters und die Großeltern. Harry muss diesmal in die Rolle des Pepi-Onkels schlüpfen, über den in der Familie ein Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Wolfram weiß nur, dass er behindert war und unter den Nazis in einem Heim "verschwunden" ist.

Todessehnsucht?

"Ich stehe nur auf dem rechten Fuß, den linken kann ich nicht belasten", stöhnt Harry. Als der Stellvertreter von Wolframs verstorbenem Bruder an der Reihe ist, stellt er sich neben ihn. Auch Wolframs eigener Repräsentant folgt dem Pepi-Onkel "auf die andere Seite". Im Seminarraum wird es totenstill: Die meisten wissen, was das zu bedeuten hat. "Fühlst du dich hier wirklich wohl?" fragt Christl Picker nach. "Nein, eigentlich nicht", antwortet der Stellvertreter - und geht zurück zu seinen lebenden Geschwistern.

"Ein solches Bild darf man natürlich nicht so stehen lassen", sagt der erschöpfte Harry am Ende des Aufstellungstages, während er die Teller mit Schokolade und Keksen einsammelt. "Da zeigt sich, ob der Aufsteller wirklich eine Ahnung hat." Christl Picker hatte eine Ahnung. "Man soll schon spüren, wie sich das anfühlt, denn erst wenn man dem Tod den Nimbus nimmt, dann kann man auch das Leben aushalten", erklärt sie. Bisher sei es freilich noch nie vorgekommen, dass ein Repräsentant tatsächlich bei den Toten geblieben ist. "Ich sag' dann immer: Hab' keine Eile - die Ewigkeit ist lang genug."

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