In den Fängen der Ahnen

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Die Familienaufstellung nach Hellinger ist in die Schlagzeilen geraten. Einblicke in eine Welt der "Verstrickungen".

Irene Seidl spürt allerlei zwischen Himmel und Erde. Doch heute spürt sie unter ihren Schützlingen vor allem eines: Unsicherheit. "Gestern noch habe ich von einer Teilnehmerin ein Mail bekommen mit der Frage, was das Schlimmste ist, was passieren kann", erzählt sie leicht amüsiert in die Runde. "Meine Antwort war: Es gibt kein Sicherheitsnetz. Entweder man lässt sich darauf ein oder nicht."

Die elf Frauen und vier Männer im Saal haben sich auf dieses Risiko eingelassen. Mit großen Erwartungen und leisem Unbehagen sitzen sie im "Genossenschaftshaus Frieden" in Wiener Neudorf, um durch "Familienstellen nach Hellinger" mit sich und ihren Ahnen ins Reine zu kommen. 195 Euro haben sie für diese etwas andere Art von Selbsterfahrung ausgelegt - und viele nicht das erste Mal. "Für manche wird das richtig zur Sucht", verrät Seidl.

Hierarchische Ordnung

Anne-Maria ist eine von ihnen. Schon oft hat die 57-jährige Ministerialrätin im Einzelcoaching die "Verstrickungen" in ihrer Herkunftsfamilie zu lösen versucht. Heute will sie ein besonderes Problem klären: "Ich schätze Männer als Väter und Freunde - aber nicht als Männer", erzählt sie der Gruppe, die an diesem Wochenende ihre "Schicksalsgemeinschaft" sein wird. "Ich glaube, das hat etwas mit der Ordnung zu tun."

Keine Frage: Anne-Maria ist mit Bert Hellingers Gedankenwelt bestens vertraut. Für den heute 79-jährigen "Erfinder" der Familienaufstellung ist ein Familiensystem streng hierarchisch geordnet. Jedes Mitglied der Sippe hat seinen unverrückbaren Platz: der Mann hat Vorrang vor der Frau, die Eltern vor den Kindern. Die Sprösslinge selbst folgen in der Reihenfolge ihrer Geburt - auch Fehlgeburten oder abgetriebene Kinder sind einzuschließen. Jeder Verstoß gegen diese Ordnung ist laut Hellinger eine "Anmaßung". Wird ein Familienmitglied an seinem Platz nicht "geehrt und geachtet", räche sich das "Sippengewissen" bei den Nachkommen mit einer "unbewussten Verstrickung": Krankheiten seien die Folge, Depressionen oder auch ein Hang zum Suizid.

Nur mit Hilfe einer Familienaufstellung könnten diese "Verstrickungen" geortet und durch "heilende Sätze" gelöst werden, predigt Hellinger - und trifft mit dieser Verschmelzung von Rollen- und Mysterienspiel offenbar den Nerv der Erlebnisgesellschaft: Seit Jahren finden die Seminare, Bücher und Videos des ebenso charismatischen wie autoritären "Therapeuten" ohne Approbation reißenden Absatz.

Hellingers Faible für Übergangsrituale und eine pseudo-religiöse bzw. altertümliche Sprache ("Ich segne dich", "Ich gebe dir die Ehre") kommen nicht von ungefähr: Sechzehn Jahre verbrachte der als Anton Hellinger in Leimen Geborene bei den Zulu in Südafrika - als Mitglied des Ordens der Mariannhiller Missionare. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1968 fasste "Bruder Suitbert" freilich nur schwerlich Fuß. Schließlich trat er 1971 aus dem Orden aus, heiratete und startete seinen Marsch durch die Psycho-Szene. Bei der US-amerikanischen Therapeutin Virginia Satir stieß er auf die Methode der Familienaufstellung: Während Satir freilich mit realen Familienmitgliedern arbeitete und gemeinsam mit dem Klienten nach einer Lösung suchte, inszenierte Hellinger seine Aufstellungen als schicksalshaftes Orakel: Durch ein "wissendes Feld" komme im Rollenspiel die Wahrheit ans Licht. Werde die Verstrickung gelöst, profitiere die gesamte (nicht anwesende) Familie.

"Eine solche Fernwirkung kennt man sonst nur vom Voodoo-Tod", ätzt der Familientherapeut Fritz B. Simon (siehe Interview).

Anne Maria ist freilich von der Wirksamkeit dieses Mysterienspiels überzeugt. Langsam schreitet sie die Sesselreihe ab und wählt "intuitiv" Repräsentanten für Mitglieder ihrer Familie - und auch sich selbst. Am Ende steht ihr Vater in einiger Distanz zum Großvater - kein Wunder, hat er diesem doch stets vorgeworfen, mit seinem überbordenden Sexualtrieb seine Frau in den Kindbett-Tod getrieben zu haben. Die Lösung dieser "Verstrickung" liegt für Irene Seidl auf der Hand: "Schade, dass du so früh gegangen bist", lässt sie den Großvater zu seiner Gattin sagen, "Mit dir hat's Spaß gemacht". "Ja, mir hat's auch gefallen", antwortet sie. Und zu ihrer Enkelin gewendet: "Du bist eine starke Frau - wie ich. Und du darfst Spaß haben. Genau wie ich."

Schnellschuss-"Therapie"

Für Anne-Maria hat sich damit ihr Männer-Problem gelöst. Zu einem Psychotherapeuten zu gehen, der in einer der 18 in Österreich anerkannten Methoden zertifiziert ist, wäre ihr dagegen nie in den Sinn gekommen, erklärt sie später in der Pause - und wird von Felicia leidenschaftlich unterstützt: "Eine Therapie ist langwierig, kostspielig und es wirkt nicht im Handumdrehen wie hier."

Genau in diesem "Vorteil" liegt für ausgebildete Psychotherapeutinnen und -therapeuten das eigentliche Problem der Familienaufstellung - zumindest so, wie sie Bert Hellinger und die wachsende Schar seiner Jünger betreibt:"Die Welt Hellingers ist eine Welt der Verantwortungsabgabe", kritisierte Gerhard Walter, Ausbildungsleiter der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie, vergangenen Freitag im Rahmen einer Diskussion im Salzburger Bildungshaus St. Virgil. "Das ist keine Ordnung der Liebe, sondern eine Ordnung der Macht."

Tatsächlich gehen die Befugnisse eines Aufstellers nach Hellinger weit über jene eines systemischen Familientherapeuten hinaus: Während ein Therapeut als Nicht-wissender dem Klienten bei der Lösung seiner Problems zur Seite steht, geriert sich Hellinger als wissender Heiler und gibt die Marschrichtung vor. Mitunter auch reichlich grob: So grob, dass sich im Jahr 1997 im Leipzig eine Frau nach einer Familienaufstellung ("Dort sitzt das kalte Herz!") das Leben nahm.

Fluchtweg Esoterik

"Hellinger ist irrsinnig hart", weiß auch seine Schülerin Irene Seidl. "Da kann es schon sein, dass sich eine Person umbringt." Sie selbst gehe bei prekären Familienbefunden sensibler vor: "Der Mensch ist ja nicht nur Mitglied seiner Familie, sondern auch ein Geistwesen."

Wie das zu verstehen ist, demonstriert die gelernte Kosmetikerin mit Ausbildungen in Neurolinguistischem Programmieren, Hellsehen, Rückführungen und Familienstellen am Fall "Bibi": "Ich suche immer Männer, die ich unterdrücken kann", beschreibt die Fünfzigjährige ihr Problem. Die Aufstellung selbst - Vater und Großvater Alkoholiker - mündet in einem fatalen Bild: Erschöpft "vom Kämpfen" legt sich die Stellvertreterin der Klientin zur toten Großmutter. "Ich hab' es eh schon oft probiert", schluchzt Bibi.

In die beängstigende Stille hinein beschreitet Seidl schließlich den esoterischen Notausgang: "Wenn ich deine Familie anschaue, muss ich sagen: Rien ne va plus. Aber du bist nicht nur deine Familie, sondern auch ein unsterblicher Körper. Sag': Ich bin ein Kind Gottes oder des Universums", spricht sie Bibi vor. "So viele haben sich für dich geopfert. Das darf nicht umsonst gewesen sein."

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