Ich – das ewige Rätsel
FOKUSEgo-State-Therapie: Patronus-Zauber und innere Stärke
"Ich" bin eigentlich "viele": Die neu entwickelte Ego-State-Therapie macht sich diese Erkenntnis zunutze – und adressiert seelische Anteile, die in unterschiedlichen Lebensaltern abgespeichert wurden.
"Ich" bin eigentlich "viele": Die neu entwickelte Ego-State-Therapie macht sich diese Erkenntnis zunutze – und adressiert seelische Anteile, die in unterschiedlichen Lebensaltern abgespeichert wurden.
Alles an Julia (Name von der Redaktion geändert) ist schwarz, ihre Kleidung, ihre Haare, sogar die kleinen Gummis, die ihre Zahnspange zusammenhalten. Schwarz – das ist einer der ersten Eindrücke, die Jenny da Silva, Psychotherapeutin aus Johannesburg in Südafrika, hat, als ihre jugendliche Klientin den Raum betritt.
Die 14-jährige Julia ist hier, weil sie sich selbst verletzt und niemanden mehr an sich heranlässt. Gemeinsam mit ihrer Therapeutin beginnt für sie eine Reise zu ihren inneren Anteilen, den sogenannten Ego-States. Bereits zwei Sitzungen später sind die Gummis an ihrer Zahnspange rosa, nach vier Wochen kann Da Silva Kontakt mit Julias innerem Stärke-Anteil "Rosa" aufnehmen, einem Abbild des fiktiven Charakters "Rosalie Hale" aus "Twilight", der Lieblings-TV-Serie der Klientin. Rosa ist alles, das Julia nicht zu sein scheint, feminin, elegant, gefühlsbetont.
Jenny da Silva, angehende Präsidentin der südafrikanischen Ego-State-Gesellschaft, war im Mai als eine von mehreren bedeutenden Therapeutinnen und Therapeuten ihrer Fachrichtung zu Gast bei einem Hypnosekongress (MEGA 2019) in Wien. Dort war auch die Ego-State-Therapie ein Thema – eine der jüngsten Formen der sogenannten Teile-Therapien. Das sind psychotherapeutische Ansätze, die alle davon ausgehen, dass sich die menschliche Seele eben aus verschiedenen Anteilen zusammensetzt, die in unterschiedlichen Lebensaltern abgespeichert wurden.
Freud, Jung und Federn
Therapeuten haben schon lange ein derartiges Bild vom Menschen; dieses reicht zurück bis zum 1871 in Wien geborenen Psychoanalytiker Paul Federn. Wie Adler und Jung war er Mitglied der von Sigmund Freud initiierten Mittwochs-Gesellschaft. Bestand die Persönlichkeit für Freud aus drei Teilen (dem Es, dem Ich und dem Über-Ich), ging Federn bald davon aus, dass es mehrere Persönlichkeitszustände geben müsse. Der in die USA emigrierte Therapeut bezeichnete diese als "Ego-States".
Die Psychotherapiegeschichte des 20. Jahrhunderts kennt kaum einen großen Denker, der nicht sein eigenes "Teile-Modell" entwickelte, darunter etwa C. G. Jungs Vorstellung von den "Komplexen" oder Eric Bernes Idee der verschiedenen Ich-Zustände (Erwachsener, Kind- und Eltern-Ich). Tatsächlich in eine eigene Therapiemethode gegossen wurde das Ganze in den 1990er-Jahren: Das Psychologen-Pärchen John und Helen Watkins publizierte ein Buch zur Theorie und Therapie mit "Ego-States"(1997).
"Das Neue an der Ego-State-Therapie ist, dass es keine vordefinierten Anteile gibt", sagt Silvia Zanotta, Leiterin des Schweizer Ausbildungsinstituts für Ego-State-Therapie und Autorin von "Wieder ganz werden. Traumaheilung mit Ego-State-Therapie und Körperwissen"(Carl-Auer, 2018). Jeder Klient sei anders, jede Geschichte neu, niemand habe dieselben Anteile."Therapeuten, die mit dieser Methode arbeiten, gehen individuell auf ihre Klienten ein und sind zumeist sehr kreativ", ergänzt die Hypno- und Traumatherapeutin. Entwickelt wurde die Methode vor allem, um mit traumatisierten Menschen besser arbeiten zu können.
Um sich einem Trauma bzw. den eigenen schwierigen Anteilen überhaupt stellen zu können, braucht es zuerst jede Menge Ressourcenarbeit, wissen Experten. So wie bei Julia werden Klienten daher zunächst Schritt für Schritt angeleitet, den eigenen "Stärke-Anteil" zu finden. Der australische Psychologe Gordon Emmerson bezeichnet diesen in seinem Buch "Ego State Therapy"(2003) als innere Weisheitsquelle oder "spirituelles Selbst". Es ist die gute Kraft, mit der wir geboren werden, und die uns - finden wir nur den Zugang zu ihr - letztlich durch alle Schwierigkeiten bringen kann.
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