Joachim Bauer - © Thomas Hedrich / Fotostudio Charlottenburg

"Innehalten und tief durchatmen"

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Joachim Bauer über Resonanz, die häufigen Leiden am eigenen Selbst sowie die Bedingungen für eine glückliche Sexualität.

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Joachim Bauer über Resonanz, die häufigen Leiden am eigenen Selbst sowie die Bedingungen für eine glückliche Sexualität.

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Ist unser "wahres Selbst" wie ein Bodenschatz, der in uns schlummert und nur darauf wartet, entdeckt zu werden? Diese Frage wird im neuen Buch von Joachim Bauer verneint - und ganz anders beantwortet. Die FURCHE bat den deuschen Arzt, Psychotherapeuten und Hirnforscher um Erklärungen.

DIE FURCHE: Herr Professor Bauer, laut Ihren neuesten Ausführungen wird der Mensch ohne ein Selbst geboren. Wie kommt man zu diesem Befund?

Joachim Bauer: Aussagen über das menschliche "Selbst" kamen bisher ausschließlich aus der Psychologie und standen auf keinem festen Boden. Erst als es vor Kurzem gelang, die Selbst-Netzwerke des Gehirns zu identifizieren, konnten sich erstmals auch Neurowissenschaftler zum "Selbst" des Menschen äußern. Die Selbst-Netzwerke haben ihren Sitz in der "unteren Etage" des Stirnhirns. Weil das gesamte Stirnhirn bei Geburt neurobiologisch noch vollkommen unreif und funktionsuntüchtig ist, können wir heute sicher sagen, dass menschliche Säuglinge zwar fühlende Wesen sind, aber noch kein "Selbst" ihr eigen nennen.

DIE FURCHE: Wie entwickelt sich dann das Selbst bzw. unsere Ich-Wahrnehmung?

Bauer: Wenn sich zwei exakt gestimmte Gitarren gegenüberstehen und die tiefe E-Saite der einen Gitarre stark angezupft wird, dann werden die von ihr ausgesandten Schallwellen die E-Saite der anderen Gitarre zum Klingen bringen. Ähnlich dazu können auch Menschen durch Mitmenschen mit Gefühlen "angesteckt" und verändert werden. Menschen verfügen über ein neuronales Resonanzsystem, das bereits bei Säuglingen in Funktion ist. Die Art, wie wir uns gegenseitig ansprechen und behandeln, führt im jeweils anderen Menschen zu einer Resonanz. Die Art, wie erwachsene Bezugspersonen auf den Säugling reagieren, hinterlässt im Säugling eine Spur; eine Botschaft, die ihm Auskunft darüber gibt, wer er ist. Die an ihn adressierten Botschaften addieren sich im Säugling auf und bilden den Kern seines Selbst.

DIE FURCHE: In Ihrem neuen Buch widmen Sie sich ausführlich dem Verhältnis von Selbst und Sexualität: Welche Rolle spielt die Sexualität für unsere Ichund Körperwahrnehmung?

Bauer: Viele Menschen betrachten die Sexualität heute wie eine mechanische biologische Maschine. Wenn es sexuell nicht klappt, wird an biologischen Stellgrößen herumgeschraubt, sei es durch "Body-Shaping" im Fitness-Studio, sei es durch die Einnahme von Hormonen. Dieses auf die pure Biologie reduzierte, seelenlose Bild, das viele Menschen von der Sexualität haben, verdanken wir nicht zuletzt auch dem Müll, den das Internet zu diesem Thema bereithält. Entscheidend für eine glückliche Sexualität ist nicht, ob wir wie Adonis oder die Allegorie des Frühlings aussehen, sondern ob unser Selbst den eigenen Körper und seine Sexualität mag. Dort, wo sich kein sexuelles Glück einstellt, sitzen die Blockaden -von wenigen Ausnahmen abgesehen -nicht etwa im Körper. Sie sind durch tiefsitzende, oft unbewusste negative Einstellungen gegenüber dem eigenen Körper begründet. Entscheidend für eine glückliche Sexualität ist, ob das Selbst dem eigenen Körper wohlwollend gegenübersteht oder nicht.

DIE FURCHE: Narzissmus, Sucht und Depression sind häufige psychische Störungen unserer Zeit. Warum ist das "Leiden am Selbst" heute so stark ausgeprägt?

Bauer: Dem eigenen Selbst begegnen zu können, "bei sich sein" zu können und im Frieden mit sich zu sein, könnte für den Menschen das höchste Glück sein. Warum aber ist stattdessen die Begegnung mit dem eigenen Selbst für viele Menschen eine Qual? Weshalb lenken sich viele Menschen ständig ab und agieren ständig im"Außen", nur um nicht "bei sich sein" zu müssen? Der Grund sind innere Selbst-Teilstücke oder Mosaiksteinchen, die negative Botschaften transportieren wie "Du bist nicht gut genug";"Wie soll man dich mögen?!"; oder: "Wo du auftrittst, fällst du anderen zur Last." Viele Menschen tragen solche negativen Mosaiksteinchen, die ihnen meist frühzeitig durch Bezugspersonen hineingelegt wurden, mit sich. Die Folge ist, dass wir am Selbst leiden und uns immer wieder depressiv fühlen, oder dass wir alles tun, um unser vermeintlich unzureichendes Selbst künstlich aufzublasen, wie man es bei Narzissten beobachten kann.

DIE FURCHE: Welchen Einfluss hat hier die fortschreitende Digitalisierung?

Bauer: Jeder Mensch ist ein einzigartiges, wunderbares Geschöpf, aber leider fühlen sich viele nicht so. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich künstlich aufzublasen, wenn man sich klein und mickrig fühlt. Viele tun sich auch schwer mit unserer Endlichkeit, also der Tatsache, dass wir sterben müssen. Wer am eigenen Selbst leidet, kann versuchen, sich mit Gegenständen, mit Besitz oder Reichtum aufzumotzen. Man kann aber auch versuchen, Teil einer Masse, also von etwas scheinbar "Großem" zu werden. Oder man schließt sich einer politischen Führerfigur an, die nun sozusagen stellvertretend die eigenen Wünsche nach Geltung und Größe zum Ausdruck bringt. Eine besondere Möglichkeit, sich aufzuplustern, bieten heute auch die sozialen Netzwerke des Internets: Dort kann jeder, auch noch so unbedeutende Wicht seine Größenfantasien ausleben, andere Meinungen niedermachen und Hass verbreiten. Da man sich in diesen Foren anonym äußern kann, gibt es hier kaum noch irgendwelche Grenzen des Anstandes.

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