Mutukrishna - © Klaus Ranger

Michael Muthukrishna: „Religion baut auf Psychologie auf“

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Für den Evolutionsbiologen und Wirtschaftspsychologen Michael Muthukrishna sind Wissenschaft und Religion in vielem vergleichbar. Ein FURCHE-Gespräch am Rande des Symposions Dürnstein 2020.

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Für den Evolutionsbiologen und Wirtschaftspsychologen Michael Muthukrishna sind Wissenschaft und Religion in vielem vergleichbar. Ein FURCHE-Gespräch am Rande des Symposions Dürnstein 2020.

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Michael Muthukrishna lehrt an der London School of Economics Wirtschaftspsychologie sowie Evolutionsbiologie in Harvard. Er ist Technical Director der Database of Religious History.

DIE FURCHE: Ist der Mensch ein religiöses Wesen?
Michael Muthukrishna: Die Rede von Religion als getrenntem Teil des Lebens ist eine westliche Sichtweise. Für die allermeisten Menschen und auch den größten Teil der Geschichte gibt es nur die Welt, und nicht eine säkulare sowie eine sakrale, religiöse. In dieser Welt gibt es direkte Informationen. Wenn ich einen heißen Stein mit der Hand angreife, dann weiß ich unmittelbar: Das ist ein heißer Stein, den sollte ich nicht wieder berühren. Und dann gibt es indirekt zugängliche Informationen – Religion ist ein Teil davon. Die überwältigende Mehrzahl dessen, was wir glauben, ist indirekte Information. Wir glauben, dass die Erde rund ist und um die Sonne rotiert. Dieser Glaube steht aber im Widerspruch zu unserer Alltagserfahrung, nach der die Erde flach ist und die Sonne um sie kreist. Wir glauben, dass es in der Luft unsichtbare Keime gibt wie das Coronavirus, die uns krank machen – keine Geister, sondern unsichtbare Erreger.

DIE FURCHE: Sind wissenschaftliche Erkenntnis und Glauben dann das gleiche Phänomen?
Muthukrishna: Der psychologische Weg, wie wir lernen, ist der gleiche. Die wissenschaftliche Methode kann uns zur Wahrheit führen, sodass wir wahr und falsch unterscheiden können. Wenn ich Sie frage, warum Sie an Keime glauben, dann antworten Sie, dafür Belege zu haben. Wenn nun ein Mitglied einer indigenen Gesellschaft sagen würde, nein, es sind die Geis­ter, die uns krank machen, dann ist das nicht weit weg davon. Einer meiner Lehrer, ein Anthropologe, forschte bei einem südamerikanischen Volk. Als er dort sagte, das Wasser mache krank, weil Keime drinnen seien, haben ihn die Leute ausgelacht. Sie glauben, dass es die Geis­ter sind, die sie krank machen – und haben Beweise dafür: Sie hören das Rascheln der Geis­ter in der Nacht usw. Die Frauen dieses Volkes glauben nicht viel anders als die Menschen, die an die Keime im Wasser glauben: Wir glauben daran, weil es alle Menschen um uns herum auch tun, und die gescheitesten Leute, die wir kennen, erklären uns das.

DIE FURCHE: Heißt das nun, dass wir alle religiöse Menschen sind?
Muthukrishna: Ja. Zum einen in dem Sinn, dass wir auf indirekte Quellen der Information setzen. Wir behaupten religiöse Dinge, auch wenn wir das nicht „Religion“ nennen. Einige davon sind wissenschaftliche Theorien wie eben die Theorie von Krankheitserregern, aber auch andere sind offensichtlich religiös – beispielsweise die Menschenrechte: Man müht sich seit Langem um eine wissenschaftliche Basis für die Anschauung, wir Menschen wären alle gleich – in Wirklichkeit sind wir alle sehr ungleich. Die Menschenrechte sind ebenso eine religiöse Überzeugung wie die Gleichheit von Mann und Frau. Wir halten an diesen nicht verifizierbaren Überzeugungen fest. Zum anderen hat die Frage, ob wir religiöse Wesen sind, damit zu tun, dass Religion auf psychologischen Merkmalen aufbaut, die allen gemeinsam sind – „proto-religiöse Erkenntnisse“: Wir können uns in die Denkweise anderer hineinversetzen, und das ermöglicht uns, uns sogar die Denkweise eines Gottes vorzustellen. Wir haben die Tendenz zu glauben, dass die Welt einen Zweck hat, dass alles, was geschieht, eine Ursache hat: Wenn ein Sturm alle Häuser zerstört, ist es einfach. Aber wenn der Sturm nur dein Haus zerstört, dann fragst du nach der Ursache: Was lief falsch, dass mein Haus zerstört wurde, bestraft mich Gott da? Und es gibt den Körper-Geist-Dualismus: Wenn ich über mich spreche, dann ist ein Unterschied zwischen meinem Ich und meinem Körper; das Ich kann den Körper kontrollieren – wenn man daran glaubt, dann glaubt man an den Geist oder an so etwas wie einen Gott.

DIE FURCHE: Aber wenn die Wissenschaft auch nur ein „Glaube“ ist, wie steht es dann um die Wahrheitsfrage?
Muthukrishna: Wir kopieren Dinge, die funktionieren. Und soweit wir sehen, ist die wissenschaftliche Methode die beste, die wir kennen, um das zu bekommen, was wahr ist. Wir können glauben, dass uns Geister krank machen oder Keime; aber der Glaube, dass es die Keime sind, führt uns zu den Antibiotika und dazu, dass wir unsere Hände gründlich waschen etc. Deswegen bevorzugen wir die wissenschaftlichen Erklärungen. Es gibt wohl unterschiedliche Ebenen der Erklärung: Sogar in der Evolutionsbiologie sprechen wir von proximaten und ultimaten Ursachen. Die ersteren erklären die Mechanismen – nehmen Sie das Beispiel Sex: Da werden Endorphine im Gehirn ausgeschütt, und sie verursachen Vergnügen – wir tun es, weil es Spaß macht. Aber diese Erklärung beantwortet die Frage nicht, warum wir Sex haben und nicht unseren Kopf gegen eine Wand donnern sollten. Dafür braucht man die ultimate Erklärung: Sex hat mit Fortpflanzung zu tun. Alle Tiere, die lieber ihre Köpfe gegen eine Wand donnern, haben weniger Nachkommen; so sind auf der Welt diejenigen Tiere übriggeblieben, die Sex bevorzugen. Mann kann das nun religiös noch mit einer über-ultimaten Erklärung versehen, die die Frage beantwortet: Warum geschieht das alles überhaupt? Man kommt dann zur Frage: Warum existiert die Welt?

DIE FURCHE: Im Marienwallfahrtsort Lourdes wurden dieser Tage die Bäder geschlossen, in denen Pilger in der Hoffnung auf Heilung untertauchten. Nun gibt es Petitionen konservativer Katholiken, die Becken wieder zu öffnen, denn, so die Argumentation, weil es sich um ein Wasser, in dem Wunderheilungen stattfanden, handelt, könne das Coronavirus ja gar keinen Schaden anrichten. Wenn man gläubig sei, könne einem im heiligen Wasser gar nichts geschehen. Wie passen derartige „antiwissenschaftliche“ Haltungen zu dem, was Sie da beschreiben?
Muthukrishna: Da kollidiert eine religiöse mit einer wissenschaftlichen Weltsicht. In letzterer gibt es keinen Raum für ein wundertätiges Wasser. Für Wissenschaftler ist dieses Wasser dasselbe wie überall, und darin können sich Keime befinden. Aber wer das sagt, leugnet das Wunder von Lourdes und verneint alles, was dieses Wunder umgibt, weswegen die Menschen dorthin kommen: Sie kommen, um physisch geheilt zu werden. Meiner Meinung gibt es zwei Arten, auf die Religion zu schauen: Man kann darüber in ihrer funktionellen Bedeutung reden, wie ich das tue: Religion ist ein unwahrer, aber fantasievoller Weg, damit es die Menschen besser haben. In dieser Perspektive muss man die Pilgerbäder in Lourdes schließen. Und dann kann man auf die Religion als eine Wahrheit schauen, die einen gesünder macht, die einen zu guten, manchmal auch zu schlechten Handlungen anleitet. Sie hat einen Zweck, eine Funktion, die wir studieren können. Und die Frage, ob da ein Gott ist – als Wissenschaftler ist man in dieser Frage agnostisch – stellt sich jenseits von all dem. In jeder Generation stellen wir fest, dass die Welt größer ist als unsere Vorstellungen. Wenn es einen Gott, d.h. einen Grund für unsere Existenz gibt, was können wir darüber lernen, in der Art und Weise, wie die Wissenschaft die Welt beschreibt? Es geht also um Kooperation.

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