Den Tod umdefiniert

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Fällt das Gehirn eines Menschen "unumkehrbar" aus, reicht das, um ihn für tot zu erklären, auch wenn der ganze übrige Organismus noch funktioniert...

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Fällt das Gehirn eines Menschen "unumkehrbar" aus, reicht das, um ihn für tot zu erklären, auch wenn der ganze übrige Organismus noch funktioniert...

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Von der Öffentlichkeit lange Zeit unbemerkt, war in der Medizin eine neue Todesdefinition hinzugekommen. Nicht mehr allein der irreversible Stillstand der Herz- und Atmungstätigkeit, sondern ebenfalls eine "schwere Hirnschädigung" bei aufrecht erhaltenener Funktion des Herzens und der Atmung wurde unter bestimmten Bedingungen als Tod des Menschen deklariert.

Die sogenannte Hirntod-Definition ist neueren Datums. Einer der ersten, der sich aus anthropologischer und ethischer Perspektive mit der Problematik dieses Begriffes befaßt hat, war Hans Jonas. Er bezieht sich zunächst auf einen Bericht über die Definition des Hirntodes, den im August 1968 eine hierzu eingesetzte Kommission der Harvard Medical School veröffentlicht hatte. Das Harvard-Gutachten "definiert irreversibles Koma als Gehirntod, wenn folgende diagnostische Merkmale vorliegen: "Abwesenheit jeder feststellbaren Gehirntätigkeit (flaches Elektroenzephalogramm) und jeder gehirnabhängigen Körpertätigkeit wie spontane Atmung und Reflexe."

Es geht also darum, das bis dahin "irreversible Koma" als neue Definition des Todes anzuerkennen mit dem Ziel, den Leichnamstatus des Leibes zu erreichen mit allen daraus erwachsenden pragmatischen Konsequenzen.

Mit anderen Worten geht es also darum, "den Zeitpunkt der Todeserklärung vorzuverlegen: die Erlaubnis nicht nur, die Lungenmaschine abzustellen, sondern nach Wahl auch umgekehrt, sie (und andere "Lebenshilfen") weiter anzuwenden und so den Körper in einem Zustand zu erhalten, der nach älterer Definition Leben gewesen wäre (nach der neuen aber nur dessen Vortäuschung ist) - damit man an seine Organe und Gewebe unter den Idealbedingungen herankann, die früher den Tatbestand der Vivisektion gebildet hätten." (Jonas) Was heute insgesamt auffällt, ist der Tatbestand, daß der Todesbegriff selbst in der Medizin nicht mehr einheitlich festgestellt werden kann und daß es anstelle einer gültigen Definition diesbezüglich willkürliche Setzungen gibt. Bei solcher schon allgemein gewordenen Unsicherheit, Liberalisierung und Individualisierung ist schon gefordert worden, es möge doch jeder gefälligst selber festlegen, wann er denn tot sei. So grotesk das klingen mag: Tatsächlich machen Mediziner der University of Pittsburg den Vorschlag, in Anbetracht der Unsicherheit bei den Ärzten solle doch jeder bei Lebzeiten selbst bestimmen, wann er als tot gelten möchte: Bei Ausfall der Herz- und Atmungstätigkeit (klassischer Tod), bei starker Beeinträchtigung des Gehirns (Gehirntod) oder wenn sein Bewußtsein längere Zeit nicht wiederkehrt (irreversibles Koma).

Ein Beispiel mag für sehr viele andere dieser Art stehen: Vor nicht langer Zeit ist ein hirntot geschriebener 21jähriger Amerikaner namens John Martin im Marin General Hospital im kalifornischen Greenbrae nach zehn Tagen erwacht. Julie Christine wachte am Bett ihres Sohnes, als dieser einige Stunden nach dem Ausschalten der Geräte plötzlich die Augen öffnete und mit den Worten "ich liebe dich" die Hände seiner Mutter ergriff. Die Beerdigung ihres Sohnes hatte sie bereits vorbereitet. Nicht nur die Angehörigen, sondern ebenfalls die Ärzte zeigten sich mehr als überrascht. Auch das deutsche Fernsehen berichtete mehrfach über ähnliche Vorkommnisse.

Trotz solcher sich mehrender Berichte wird aber im allgemeinen die Realität so aussehen, daß der als hirntot definierte, irreversibel komatöse Patient nicht wieder zum Bewußtsein kommt. Aber darf der Körper in diesem Fall als Organbank dienen?

"Nur Geier und Schakale fallen sofort darüber her", vermerkt Willi Geiger, Senatspräsident a.D. am Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsrichter a.D.. Es gibt nicht nur das Grundrecht auf Leben, sondern auch und insbesondere "das Grundrecht auf willkürfreie Behandlung."

Durch die heute immer weiter ausgreifenden Explantationen von Organen unter bewußter Ausnützung der Verwischung der Grenzen zwischen Leben und Tod des Spenders, und zwar dadurch, daß man ebenfalls bewußt und manipulativ den definitorischen Übergang von der Feststellung des irreversiblen Komas zur Feststellung des Hirntodes vollzieht, auch dadurch bestätigt sich heute keineswegs eine humane, jedenfalls aber eine technisierte Medizin.

Komatöse Patienten, die kraft Definition als tot gelten, gelten nun ebenfalls definitiv nicht mehr als Patienten, sondern als Leichname, mit denen all das angestellt wird, was als erlaubt gilt und wozu das Forschungs- oder Transplantationsinteresse drängt.

Es entwickelt sich eine Eigendynamik des Machbaren. Und weil die Industrie des Körpers und am Körper unaufhaltsam expandiert, übt das Faktische eine normative Kraft aus.

So berufen sich Spezialisten darauf, daß anderswo ebenso verfahren werde und daß dadurch ihre Handlungen gerechtfertigt seien. Der komatöse Patient hat weitgehend keine Chance mehr zu leben, er ist zu einer "postmodernen Leiche" geworden. Der gegenwärtige Transplantationsrausch, um nicht zu sagen Transplantationswut, ist übermächtig geworden.

Es gibt bei "Hirntoten" das sogenannte Lazarus-Syndrom, worunter man versteht, daß der Totgesagte die Krankenschwester etwa umarmt, wenn sie das Bett aufschüttelt. Hier haben wir es mit der oben genannten "metaphorischen Leistung" zu tun, solche Patienten als tot zu deklarieren.

Man spricht bezeichnenderweise vom "Hirntodsyndrom" , obwohl man im allgemeinen unter "Syndrom" ein Krankheitsbild versteht, welches am lebenden Menschen diagnostiziert wird. Den Tod als Krankheitsbild zu deklarieren, gehört in der Tat zu einer postmodernen Medizin.

Des weiteren kann es bei "hirntoten" Männern zu dauerhaften Errektionen kommen, so daß sie unter gewissen Umständen noch Kinder zeugen könnten. Und es ist durchaus möglich, daß Ärzte, die solche Patienten zu Tode definiert haben, aufgrund von Potenzstörungen etwa keine Kinder zeugen können. Was dergleichen Lebensäußerungen anbetrifft, können "Hirntote" also solchen Ärzten gegenüber weitaus überlegen sein.

Und was hirntoten Männern recht ist, das ist hirntoten Frauen billig. Denn sie können unter Umständen als moderne "Zombies" oder "Untote" , wie man sie auch schon bezeichnet hat, noch Kinder gebären. Der Vorgang und die Diskussion um das "Erlanger Baby" haben zur Genüge gezeigt, welcher Sprengstoff in anthropologischer und ethischer Hinsicht hier verborgen ist.

Während sich nahezu das gesamte emanzipatorische Lager entrüstet, wieso man denn einer toten Frau noch zumuten könne, ein Kind zu gebären, sie also zu mißbrauchen, bemühten sich hochqualifizierte Experten, wenigstens das Leben des Kindes zu retten. Das Kind kam schließlich durch Spontangeburt - leider tot - zur Welt.

Man hatte übrigens schon Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt. Schon öfter waren Kinder von totgesagten Müttern - und zwar lebend - geboren worden.

Die Erlanger Rettungsaktion hat aber unmißverständlich erwiesen, daß diese Frau keine Leiche war, daß also eine Leiche kein Kind gebären kann. Und eine Spontangeburt ist ohne Einwirkung und Steuerung des totgeglaubten Gehirns ebenfalls nicht möglich.

Komplexe Lebensfunktionen als nachklingende Reflexe von toten Menschen zu deklarieren, bedeutet nun aber, Willkür walten zu lassen und eine Blickverengung auf jene klinisch feststellbaren Kriterien vorzunehmen, die man vorher pragmatisch, also zweckhaft, festgelegt hat.

Weitere Fragen werden heute diskutiert, und zwar weltweit. Drei will ich nur nennen, sie aber aus Platzgründen hier nicht weiter behandeln. Einmal ist es die Frage, ob eine Organtransplantation überhaupt zum Wohle des Organempfängers erfolgen kann. Zweitens gibt es jene, keineswegs immer öffentlich geführte Diskussion darüber, daß man weniger Organe bekommen würde, wenn den betroffenen Angehörigen und der Öffentlichkeit die Wahrheit über den wirklichen Zustand der komatösen Patienten mitgeteilt würde.

Und es ist die Frage, ob denn immer ausreichend genug reanimiert wird, wenn die Möglichkeit der weitaus lukrativeren Organgewinnung besteht.

Sehr deutlich zu diesem Thema äußert sich der Papst in der Enzyklika "Evangelium vitae": "Mit Hilfe äußerst spitzfindiger Systeme und Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute in der Lage, nicht nur für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu finden und Schmerzen zu lindern oder zu beheben, sondern auch das Leben selbst im Zustand äußerster Schwäche zu erhalten und zu verlängern, Personen nach dem plötzlichen Zusammenbruch ihrer biologischen Grundfunktion künstlich wiederzubeleben sowie Eingriffe vorzunehmen, um Organe für Transplantationen zu gewinnen."

Indem in diesem Zusammenhang das Wort "Euthanasie" ausdrücklich genannt wird, heißt es unter diesem Stichwort weiter: "In einem solchen Umfeld zeigt sich immer stärker die Versuchung zur Euthanasie, das heißt, sich zum Herren über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben anderer ,auf sanfte Weise' ein Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich, was logisch und menschlich erscheinen könnte, wenn man es zutiefst betrachtet, als absurd und unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten Symptome der ,Kultur des Todes'."

Die Ehrfurcht vor dem sterbenden Menschen gehört zu den Grundlagen jeder Kultur. Der Schwund einer Kultur zeigt sich aber gerade dann, wenn die Schwächsten eliminiert werden. Das Konstrukt "Hirntod" ist eine Setzung, für die kein Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsbeweis angetreten werden kann.

Der Autor ist als Laie Professor für Moraltheologie an den Universitäten Osnabrück und Vechta. Arbeiten des Autors zu diesem Thema: "Gentechnologie und Humangenetik". Stein am Rhein 1989; "Der umstrittene Hirntod", in: W. Ramm (Hg.), Organspende. Letzter Liebesdienst oder Euthanasie, Abtsteinach 1995; "Ist der sogenannte ,Hirntod' der Tod des Menschen?", in: R. Bäumer, A. von Stockhausen (Hg.), Zur Problematik von Hirntod und Transplantation, Weilheim/Bierbronnen, 1998.

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