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Wie tot ist ein „Gehirntoter"?

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In einer deutschen Klinik hängt eine 18jährige Frau an einer Menge lebenserhaltender Geräte, obwohl sie als tot gilt -eben als hirntot. Sie ist allerdings lebendig genug, um bis auf weiteres das Wachstum ihres ungeborenen Kindes zu ermöglichen. Ist sie nun tot oder nicht?

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In einer deutschen Klinik hängt eine 18jährige Frau an einer Menge lebenserhaltender Geräte, obwohl sie als tot gilt -eben als hirntot. Sie ist allerdings lebendig genug, um bis auf weiteres das Wachstum ihres ungeborenen Kindes zu ermöglichen. Ist sie nun tot oder nicht?

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Die Frage ist deswegen so brisant, weil dieselbe Diagnose Hirntod in anderen Fällen ausreicht, einem Menschen lebenswichtige Organe zu entnehmen und um diese „lebendigen" Organe einem anderen Menschen einzupflanzen. Ist das nicht schizophren?

Noch bedenklicher stimmt es den Laien, wenn er in einem Artikel, der Gehirntote als idealen Ort der Aufbewahrung von Transplantationsorganen beschreibt („The Futurist", 1986) und dies als Zukunftstechnik anpreist, so nebenbei folgendes liest: Erst ein Hüsteln habe 1984 einem 20jährigen, der in den USA für eine Organentnahme vorbereitet wurde, das Leben gerettet. Und nur eine Fußbewegung habe verhindert, daß einem Mann neun Stunden, nachdem er für tot erklärt worden war, die Leber entnommen wurde.

Sogar zehn Tage lang sei er ohne meßbare Gehirnaktivität in der Intensivstation des Stanford Medical Center in den USA gelegen, berichtet Tom Scärinci in seinem Buch „Ten days dead". Während einer Operation habe er 1977 einen Herzstillstand erlitten. Die Folge: eine Stunde bleibt sein Gehirn ohne Sauerstoffzufuhr, tagelang läßt es keine meßbare Aktivität erkennen. Und dennoch: Scarinci hat das Spital zum größten Erstaunen aller im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte verlassen.

Sind das Schauermärchen? Dazu Thomas Kenner, Dekan der medizinischen Fakultät in Graz: Man lese immer wieder Berichte über die Reanimation von Patienten mit einem Null-EEG (ohne Gehirntätigkeit). Meistens bedeute das allerdings Schädigung des Gehirns. In der Medizin gebe es eben keine lOOprozentigen Prognosen.

Ist daher Hirntod als Grenzstein für das Leben nicht ungeeignet? Von welchen Überlegungen geht die Medizin da eigentlich aus?

Das Gehirn steuert und koordiniert alle anderen Organe des Körpers. Zusammen mit dem Kreislauf sorgt es dafür, daß die vielen Organe ein funktionsfähiges, zielgerichtet agierendes Ganzes bilden. Fällt das Gehirn endgültig aus, so löst sich auch die körperliche Einheit auf, fällt doch die zentrale Steuerung weg. „Das Absterben des Gehirns ist somit verantwortlich für den Tod der Ganzheit des Organismus", stellt daher Markus Schwarz zum Thema „Hirntod" (Imabe-Quartalsblätter 3/91) fest.

Das Absterben selbst wird aber nicht unmittelbar beobachtet. Man schließt auf diesen Vorgang aufgrund der Messung bestimmter Indikatoren: Mit dem EEG wird die Gehirnaktivität erfaßt und mittels Angiographie der Stillstand der Gehirndurchblutung festgestellt. Beide sind notwendige Begleiterscheinungen, wenn ein Gehirn abstirbt. Aber reichen sie aus, um auf ein abgestorbenes Hirn zu schließen? Meistens ja. Aber offensichtlich gibt es Ausnahmen zu dieser Regel.

Dazu kommt noch folgendes: Die Medizin ist von der Naturwissenschaft geprägt. Diese kann nur erfassen, was sie messen kann. Sie muß sich also auf die allgemeinen Merkmale von Geschehnissen beschränken. „Messen, was meßbar ist...", war die Anweisung Galileis. Aber schon er forderte zu unerlaubter Grenzüberschreitung auf: „... meßbar zu machen, was nicht meßbar ist."

Und genau das tut die Medizin, wenn sie den Gehirntod als Grenze festlegt. Sie versucht zu messen, was nicht meßbar ist, einen eminent persönlichen Vorgang: Jeder Mensch stirbt seinen Tod, beendet sein irdisches Leben. Jeder menschliche Geist löst sich in einem einmaligen Vorgang von seinem irdischen Leib. Das Eigentliche, das Wesentliche an diesem Geschehen ist wissenschaftlich unzugänglich.

Natürlich hat das Sterben äußerlich wiederkehrende Erscheinungen. Aber sie beschreiben nur die Oberfläche des Geschehens. Das dahinterliegende Geheimnis bleibt der Wissenschaft verborgen. Daher geschehen bei der wissenschaftlichen Okkupation des persönlichen Phänomens Sterben notwendigerweise Unmenschlichkeiten.

Es leuchtet zunächst zwar ein, was der Philosoph Joseph Schmucker von Koch sagt: „Die Materie-Geist-Verbindung ist hier durch den Tod des Gehirns von der materiellen Seite her aufgelöst, es gibt nichts mehr, womit die personale Geistseele noch in Verbindung treten kann, nachdem das hierarchisch höchste Steuerungsorgan im menschlichen Organismus tot ist." (Imabe)

Aber: Woher nehmen wir die Gewißheit, daß es jenseits der bekannten Verbindung über das Gehirn nicht auch andere Beziehungen zwischen Körper und Geist gibt? Lange Zeit wurde das Herz als Sitz des Lebens angesehen. Kein Mittel der Wissenschaft kann ausschließen, daß nicht auch diese Hypothese recht hat. Die Medizin weiß ja nicht einmal, was das Leben ist, sie erfaßt daher auch den Tod nicht wirklich. Beides geschieht im Geheimnis Gottes.Wie tot ist dann ein Hirntoter, dessen Kreislauf man in Gang hält? Wahrscheinlich schwebt er zwischen Tod und Leben. Er stirbt eben.

Und in diesen Sterbevorgang darf man nur eingreifen, wenn man allein das (umfassende, leib-seelische) Heil des Patienten im Auge hat. Die enormen Fortschritte der Transplantationsmedizin haben aber diese Prämisse radikal geändert und die Definition des Gehirntods als (vorverlegte) Grenze begünstigt: Jugendliche Unfallopfer sind nun zu begehrten Organlieferanten geworden. Und das verändert zwangsläufig die Perspektive - auch bei gutem Willen der Mediziner. Es geht dann eben nicht mehr allein nur um das Wohl des Sterbenden, sondern sein Organismus wird auch unter dem Aspekt seiner Nützlichkeit betrachtet. Und das ist unmenschlich - auch wenn es mit menschenfreundlichem Vokabular umrankt wird.

Aber darf man sich darüber wundern, daß eine Welt, die nichts von Gott und von der • Unsterblichkeit der Seele weiß, auch die letzten persönlichen Reservate des Menschen auszubeuten beginnt?

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