6587980-1952_07_06.jpg
Digital In Arbeit

Fortschritt der Gehirndiagnose

Werbung
Werbung
Werbung

Unter Elektroencephalographie versteht man die Aufzeichnung von Spannungsschwankungen, sogenannten „Aktionspotentialen“ des Gehirns, die von der Schädeldecke abgeleitet werden. Es ist ja heute bereits weit bekannt, daß jeder Lebensvorgang mit geringen elektrischen Spannungsänderungen einhergeht. Diese sollen an einzelnen aus dem Verband gelösten Zellen ein zwanzigstel Volt erreichen, doch fällt diese relativ große Spannung, deren Ausbreitung das umgebende Gewebe große Widerstände entgegengesetzt, an der äußeren Schädeldecke bis auf einige Millionstel Volt ab. Erst seit den letzten zwei Jahrzehnten sind die Elektrotechniker in der Lage, mit Hilfe von mehreren hintereinandergeschalteten Verstärkern diese geringen Spannungen so zu vergrößern, daß man mit einem im Endverstärker erzielten Stromstoß ein Schreibgerät in Bewegung setzen kann, das die Spannungsänderungen registriert. Auf diese Weise erhalten wir eine Kurve, die uns einen bestimmten Einblick in verschiedene Vorgänge im Gehirn vermittelt.

Da jede lebende Zelle — nicht nur die des Gehirns — in bestimmten Zeitintervallen Spannungsänderungen aufweist, ist es denkbar, von jedem menschlichen oder tierischen Organ derartige Aktionspotentiale abzuleiten. Es wird dies auch von den Nerven in Form des „Elektro- neurogramms“, von Muskeln als „Elektromyogramm“, vom Herzen als „Elektrokardiogramm“, von der Netzhaut des Auges als „Elektroretinogramm“, vom Rückenmark als „Elektrochordogramm“, vom Gehirn als „Elektroencephalo- gramm“ usw. getan. Im Prinzip wohl einfach, aber praktisch ziemlich schwierig ist die Technik der Ableitung und die Deutung der Kurven, weil wir ja das Herz nicht herausnehmen, den Nerv nicht freilegen und das Gehirn nicht von der Schädeldecke befreien, sondern praktische Methoden haben wollen, die eine vollkommen schmerzlose Untersuchung an jedem Menschen erlauben.

In unserem Fall werden kleine, mit Watte und Gaze umwickelte Silberelek- troden, die zur Verbesserung des Kontakts mit Kochsalzlösung befeuchtet werden, mit Hilfe einer Gummibandhaube an der Kopfhaut aufgesetzt oder mit Kollodium festgeklebt. Wir müssen daher damit rechnen, daß neben den Aktionspotentialen des Gehirns auch solche von der Kopf- und Augenmuskulatur und Spannungsschwankungen, die durch Widerstandsänderung von Blutgefäßen, der Haut und andere mehr bedingt sind, mitgeschrieben werden. Wohl lassen sie sich dadurch vermindern, daß der Untersuchte den Kopf stillehält, in möglichst entspanntem und ruhigem Zustand verharrt, die Augen geschlossen läßt — ganz zu vermeiden sind sie jedoch nicht. Sorgfältigste Arbeit und genaueste Kenntnis aller technisch-physikalischen Bedingungen ist daher unerläßliche Voraussetzung für den Untersuchenden, um derartige mitregistierte Änderungen von den „Wellen“ des Gehirns unterscheiden zu können. Möglich wird dies dadurch, daß wir wissen, welche Frequenzen die Spannungsschwankungen im Muskel haben, wie Widerstandsänderungen der durchbluteten Haut im Kurvenbild aus- sehen und wodurch sie sich von den typischen Hirnwellen unterscheiden, deren Frequenz und Amplitude ebenfalls in einem bestimmten Bereich liegt; wir teilen sie ein in sogenannte „Delta - Rhythmen (0,5 — 3,5 Hertz, das ist „Schwingungen pro Sekunde“), „Theta - (4_7 Hertz), „Alpha“- (8 — 13 Hertz), „Beta“- (14 — 25 Hertz) und „Gamma“- Rhythmen (über 25 Hertz), wovon beim Gesunden die Alpharhythmen im Zustand geistiger Passivität (das heißt im Wachzustand mit geschlossenen Augen und bei entspannter Körperhaltung) und Betarhythmen als Zeichen geistiger Aktivität (beim Augenöffnen, Lösen einer Rechenaufgabe usw.) normalerweise Vorkommen. Delta- und Thetawellen kommen beim gesunden Erwachsenen im Schlaf und im Zustand’gestörten Bewußtseins („Dösen“) vor, während über die Gammafrequenzen noch sehr wenig bekannt ist und über die obere Grenze ihres Bereichs die Meinungen noch sehr auseinandergehen.

Verschiedene Erkrankungen führen nun auf Grund der geänderten Stoff wechselvorgänge, mit denen sie einher^ gehen, zu einer anderen „bioelektrischen Zelltätigkeit, das heißt die Spannungsschwankungen werden rascher oder langsamer und mit anderer Intensität ablaufen und dadurch ein ganz anderes Kurvenbild ergeben. So sind langsame Deltawellen beim Erwachsenen, der nicht schläft, eines der wichtigsten Zeichen für Krankheitsprozesse, wie zum Beispiel Hirndruckssteigerung, Tumoren, Verletzungen des Gehirns usw. Abnorme Betawellen finden sich bei Schizophrenen, ungemein rasche (im Kurvenbild steil ansteigende und hohe) Potentialänderungen kennzeichnen den Epileptiker ebenso wie unregelmäßige und wechselnde Frequenzen, die als „Dysrhythmie“ bezeichnet werden. Weitere Hilfsmittel sind uns dadurch gegeben, daß wir Änderungen der normalen Abläufe bei irgendwelchen Reizen beobachten können: rasches, kräftiges Atmen beschleunigt die Tätigkeit und kann einen ansonst ruhenden epileptischen Herd sichtbar machen, kurze Lichtblitze, kleine Rechenaufgaben, Injektionen von Medikamenten führen ebenfalls zu charakteristischen Änderungen. So sind wir, kurz zusammengefaßt, mit Hilfe der Elektroencephalographie vorläufig imstande, einiges auszusagen: 1. über Sitz von Hirntumoren (Geschwülste, Blutungen, Erweichungsherde usw.) und Ausdehnung davon hervorgerufener Schädigungen; 2. über den Sitz von Verletzungen und Fremdkörper im Gehirn; 3. über die Schwere der Epilepsie und den Sitz epilektischer Herde (worüber uns bisher keine andere Methode — auch die Röntgenstrahlen nicht — ebensolchen Aufschluß zu geben vermochten). Mit weiteren Fortschritten und Erkenntnissen auf diesen Gebieten könne wir in der nächsten Zeit sicher rechnen, es wird uns allerdings auch in fernerer Zukunft nicht möglich sein, damit Genaues über die Gedanken eines Menschen zu sagen. Die Methodik wird so verläßlich werden, daß das Elektroence- phalogramm in seiner Brauchbarkeit als klinischer Befund für den Arzt dieselbe Bedeutung erlangen wird wie ein Röntgenbild oder ein Elektrokardiogramm. Der Neurologe verwendet es heute schon, um damit seine Diagnose zu klären und die Prognose eines Krankheitsverlaufes zu bestimmen, die Sozialfürsorge, Eisenbahn- und Straßenbahnbetriebe fordern es, um Epileptiker, auch ohne manifeste Anfallszeichen, rechtzeitig ausfindig zu machen. In Amerika und den angelsächsischen Ländern ist bereits jedes größere Krankenhaus mit einem Apparat ausgerüstet.

Die geschichtliche Entwicklung der Elektroencephalographie reicht bis ins Ende des 19. Jahrhunderts zurück (1883 hat unter anderen auch der Wiener Fleischl von Marxow gezeigt, daß tätige tierische Gehirne elektrische Kräfte erzeugen), doch wird der Psychiater Berger, der in Jena um 1924 mit Hilfe der modernen Elektronenröhrentechnik den Grund zur exakten gehirn- elektrischen Forschung legte und nachwies, daß sich Spannungsschwankungen auch von der äußeren Kopfhaut ableiten lassen, als ihr Entdecker bezeichnet. Seine Leistung fand in Deutschland nicht die entsprechende Anerkennung, in Österreich war Rohracher einer der ersten, der sie würdigte, doch die Engländer (Adrian, Walter und andere) und Amerikaner griffen seine Idee begeistert auf. Sie konnten sich die ungeheuren Errungenschaften und Verbesserungen der Kathodenstrahlröhren zunutze machen, bis man während des Krieges, der mit seiner großen Anzahl von Schädelverletzungen ein rasches Weiterarbeiten auf diesem Gebiet notwendig werden ließ, vermehrt dazu überging, bei Operationen direkt von der Gehirnrinde abzuleiten, und so konnte man in verschiedenen Ländern wesentliche Erkenntnisse gewinnen.

Bei uns errang die Elektroencephalographie noch nicht die Bedeutung wie in einzelnen Nachbarstaaten, weil die Beschaffung der ungeheuer kostspieligen Apparate auf Schwierigkeiten stößt. Um so höher ist die Leistung derer zu schätzen, die unter materiell ungünstigen Bedingungen in mühevoller Kleinarbeit die Forschung mit selbstgebastelten Geräten aufnahmen und ebenfalls Beiträge lieferten, die auch im Ausland beachtet werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung